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  1. Interessant, welche Reaktionen u.a. mein Post hier so hervorbringt. Bildungspolitik ist mit Sicherheit eines der heiß umstrittensten Themen in unserer Gesellschaft, gerade auch weil, wie ich ja bereits angemerkt hatte, jeder seine eigenen Erfahrungen als Schüler oder Eltern schulpflichtiger Kinder gemacht hat. Interessant finde ich besonders die unterschiedliche Sichtweise auf Schule im allgemeinen und Lehrer im besonderen, die hier vertreten werden. Obwohl mich der Reservist gar nicht kennt und nichts über meinen beruflichen Werdegang weiß, haut er hier schon einige starke Stücke heraus: ich bin resigniert, frustriert, veränderungsunwillig, neuen Lernformen abgeneigt und habe keine Ahnung was in der freien Wirtschaft läuft. Also genau die stereotypen Vorurteile, die man Lehrern gegenüber pflegt. Umgekehrt könnte ich nun hochnäsig und arrogant fragen, wie sieht es denn mit der eigenen Unterrichtserfahrung an allgemeinbildend Schulen aus? Auf wie viele Jahre Praxis im Unterricht und der Lehrerausbildung kannst du zurück blicken? Das Ergebnis wäre vermutlich ein kleinlautes: Null. Dann könnte ich frech anschließen: Wenn man keine Ahnung hat einfach mal Fresse halten. Ich komme ja auch nicht zu dir ins Unternehmen und sage dir, dass das was du machte totaler Mist ist, weil es eine ganze Menge toller Studien dazu gibt, nach denen man das so uns so machen muss. Nein, das mache ich nicht, ich leg mal die Karten auf den Tisch und berichte etwas aus der Praxis und gehe auf die einen oder anderen Vorwürfe ein. Zunächst zu mir selbst: Ich unterrichte inzwischen seit knapp 14 Jahren an Realschulen in BW. Seit ca. 10 Jahren arbeite ich auch im Bereich der Ausbildung junger Lehrer. Dies in Zusammenarbeit mit den Pädagogischen Hochschulen (gibts nur noch in BW) und den Staatlichen Seminaren für Didaktik und Lehrerbildung. Oder konkret gesagt ich betreue die schulpraktische Seite angehender Studenten (1. Staatsexamen) und Lehramtsanwärtern (2. Staatsexamen). Meine Schule ist eine klassische Realschule in einer Kleinstadt nördlich von Stuttgart (35.000 Einwohner. 2 Gym, 2 RS, 2 GemSchule und zig Grund und Werkrealschulen). Unsere Schule ist fünfzügig und mit ca. 800 Schülern relativ groß. Unser Einzugsgebiet bezieht sich auf die Stadt selbst und viele Umlandgemeinden. Unsere Schülerzahl ist, entgegen der üblichen Prophezeiungen, kontinuierlich gestiegen. Dies liegt vor allem an unserm guten Ruf, einem engagierten und motivierten Kollegium, unserem innovativen Schulprofil. (also nix mit veränderungsunwillig ) und unserer herausragenden Schulleitung. Welche Schule in BW kann schon auf eine offizielle Kooperation mit einem Schützenverein verweisen Dies führt dazu, dass manche Schüler z.T. 20km Schulweg auf sich nehmen, um uns zu besuchen. Ok, nun reichte aber mit der Selbstbeweihräucherung Grundsätzlich stimme ich im wesentlichen mit unserem Reservisten überein, dass unser Schulsystem suboptimal ist und in vielen Bereichen einer Reform bedarf. Hinsichtlich der konkreten Punkte wären wir aber sicher verschiedener Meinung. Er argumentiert ähnlich wie unsere Bildungspolitiker aus der Theorie. Ich aus der alltäglichen Praxis. Hierzu möchte ich im folgenden an einige Beispiele umfangreicher erläutern. Teil 1: Differenziertes, selbstgesteuertes Lernen: In BW ist, gerade in Zusammenhang mit der Einführung der Gemeinschaftsschulen, das differenzierte, selbstgesteuerte Lernen in verschiedenen Niveaustufen in Verbindung mit Kompetenzrastern gerade das große Thema. Vereinfacht gesagt, geht es also darum, dass Schüler sich selbstständig, mit Hilfe von sogenannten Lernjobs (http://www.institut-beatenberg.ch/wie-wir-lernen/instrumente/smarites-lernjobs.html) die Inhalte erarbeiten und ihre erbrachte Leistung, dann mit Hilfe der Kompetenzraster (http://www.institut-beatenberg.ch/wie-wir-lernen/instrumente/kompetenzraster.html) einordnen. Der Lehrer übernimmt im wesentlichen nur noch die Funktion eines Lerncoaches. Am Ende stehen dann verschiedene Niveaustufen, die sich in verschiedenen Abschlüssen ausdrücken. Angedacht ist auch, dass dadurch die schwächeren Schüler in ihrer Lerngruppe / Klasse von den stärkeren Schülern profitieren. Propagiert wird diese Konzept u.a. vom Schweizer Pädagogen Andreas Müller. Müller wird auch vom KuMi BW gerne als Experte geladen um sein Konzept (Zusammenfassung: http://nibis.ni.schule.de/~torc/images/andreas_mueller_zusammenfassung.pdf) auf sogenannten Fachtagen zu präsentieren und als neues Ziel für die Schulen in BW zu propagieren. Und Müllers Konzept kann auf den ersten Blick überzeugen, stammt es doch aus der eigenen Praxis. Soweit so gut. Was man von Seiten der Bildungspolitik und Schulverwaltung nicht erfährt ist folgendes: Müller setzt seine Konzepte natürlich nicht an einer staatlichen Schule um, sondern an seinen eigenen Privatschulen. Aushängeschild ist hierbei das Institut Beatenberg. Als Unternehmer leitet bzw. begleitet Müller mehrere börsennotierte Bildungsunternehmen, die Schulen verschiedenen Niveaus, Berufsausbildungsstätten, Erwachsenenbildungseinrichtungen und Verlage umfasst. Müllers Vorzeigeschule Beatenberg ist eine private Eliteschule, die als Internat konzipiert ist. Er erprobt sein Konzept also an ausgewählten Schülern, die in Kleingruppen, 24/7 betreut werden und von denen jeder seinen persönlichen Lenrcoach hat. Im Gegensatz zur Regelschule kann Müller auch unliebsame Schüler jederzeit wieder loswerden, da mit den Eltern ja ein Vertrag geschlossen wurde. Für dieses Konzept darf man dann im Jahr so 30.000 CHF Schulgeld aufbringen. Damit hat er dann auch die Mittel eine hoch effiziente Lernumgebung zur Verfügung zu stellen, denn nach Müller ist der Raum und die Ausstattung der 3. Pädagoge. Das sieht dann so aus: http://www.institut-beatenberg.ch/images/gallerien/lernteams/lernteams_4.jpg Jeder Arbeitsplatz ist damit ausgestattet: http://www.institut-beatenberg.ch/publikationen-und-materialien/materialien.html Und so sieht es in einer gewöhnlichen Realschule (nicht bei mir) aus: http://www.schwaebische.de/cms_media/module_img/2090/1045445_1_article660x420_1045445_1_org_B993164880Z.1_20140430155653_000_GRQ35CJG6.2_0.jpg Müllers Erfolge sind allerdings auch nicht so toll. Vor kurzem flog eine komplette Klasse seiner Euregioschule am Bodensee durch die Prüfung, während 95% der "normalen" Schüler bestanden. In BW wird sein Konzept z.B. von der freien Anne-Sophie in Künzelsau umgesetzt. Prinzipiell müssten die Schüler in Realschulprüfungen und im Abitur überdurschnittlich abschneiden. Dem ist wohl nicht so. Denn man weigert sich dort tunlichst Einblick in die Prüfungsergebnisse zu geben. Die Crux an der Sache ist nun die, dass man seitens der Kultusverwaltung dieses Privatschulkonzept nicht nur völlig unkritisch einkauft, sondern auch noch möglichst genau den bestehenden Schulen überzustülpen versucht und zwar ohne die konkreten Bedingungen vor Ort zu berücksichtigen. Und die sehen so aus: An unserer Schule gibt es momentan 27 Klassen, für die aber nur 21 Klassenzimmer zur Verfügung stehen. :Curling: Dass trotzdem Unterricht stattfinden kann liegt, daran, dass glücklicherweise immer Klassen Sportunterricht haben oder in Fachräumen sind, so dass kurzfristig Räume frei werden. Das hat aber auch zur Folge, dass viele Klassen gar kein eigenes Klassenzimmer zur Verfügung haben und jede Stunde in einem anderen Raum erhalten bzw., dass sich zwei Klassen ein Klassenzimmer teilen. Selbst wenn man wollte, ist da nichts mit eigenem Arbeitsplatz. Allein durch den ständigen Wechsel kann ein Klassenlehrer auch keine dauerhafte Tischordnung gestalten, z.B. Gruppentische in Klasse 5, Einzeltische in der Oberstufe etc. Denn wenn vier verschiedene Klassen an einem Tag ein Klassenzimmer belegen, kann schon rein zeitlich nicht immer komplett umgestellt werden. Von Baustellen, Rollcontainern, Toolboxen, Ateliers etc. wollen wir hier gar nicht reden. Müllers Konzept wird jedoch als Wunderlösung angesehen und verkauft. Nun ist es jedoch keineswegs so, dass ich diese Arbeitsweise komplett ablehnen. Denn was Müller hier verkauft ist eigentlich ein alter Hut, der schon in den verschiedensten Reformschulen der 70er Jahre propagiert wurde. Ein Großteil seines Methodenrepertoires wird schon seit Jahren von mir und meinen Kollegen umgesetzt (Freiarbeit, Stationenlernen, Selbstevaluation und Selbstbewertung etc.), jedoch angepasst an die örtlichen Gegebenheiten und vor allem die Bedürfnisse der Schüler. Müllers größter Fehler liegt meines Erachtens jedoch in der Rolle die er dem Lehrer zuspricht, denn: Diese Neudefinition der Lehrerrolle widerspricht jedoch nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch eklatant allen Forschungsergebnissen zu Unterrichtserfolg. Denn eine funktionierende Lehrer - Schülerbeziehung ist der Kernpunkt jedes Lernarrangements. Und jetzt komm ich auch mal mit einer Studie. Denn der Neuseeländer John Hattie in einer Zusammenfassung von 800 Metastudien nachweisen können, dass erfolgreiches Lernen ganz Wesentlich vom Lehrer abhängt. Andere Faktoren wie Klassengröße, Ausstattung der Zimmer oder Einsatz moderner Medien spielen eine völlig untergeordnete Rolle. http://www.zeit.de/2011/45/C-Lehrer-Studie/seite-1 Was bei solchen theoretischen Konzepten auch komplett unter den Tisch fällt ist die Heterogenität der Schüler und ihre tatsächliche Lebenswelt. Inklusion ist z.B. bei uns an der Schule schon lange Realität. Gerade die oben genannte funktionierende Lehrer-Schüler Beziehung ist von eklatanter Bedeutung, denn ich muss in der Lage sein mich auf die verschiedensten Schüler und ihre Probleme einzulassen und meinen Unterricht an sie anpassen. Da hilft kein noch so tolles Konzept. Hier einfach mal ein paar Situationen und Eindrücke was direkt den Unterricht in einer Klasse beeinflusst und große Flexibilität hinsichtlich der Methodik und des Umgangs erfordert (natürlich alles selbst erlebt): Krankheiten: Mutismus, Asperger Autismus, Spastische Lähmung, Querschnittslähmung, Diabetes, Collitis Ulzerosa, Morbus Cron, Hörverlust, Sehverlust, Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, A(D)HS u.v.m. Und nein ich bin nicht an einer Sonderschule. Ihr seht Inklusion ist für uns schon ein alter Hase. Aber jeder Schüler braucht seine spezielle Zuwendung. Ausflug mit dem Rollstuhlfahrer?, Wandertag mit dem Spastiker ?, Welche Ernährung im Schullandheim für das Mädchen mit Morbus Cron?, Wie legt die Mutistin ihre mündliche Prüfung ab? Wie kann die Depressive nach ihrem Klinikaufenthalt wieder den Anschluss finden usw. Man wird zwangsläufig zum Experten für die verschiedensten Krankheiten. Familiäre und persönliche Situationen etc.: Scheidungen / Traumas durch Scheidungen, in manchen Klassen 50% Scheidungskinder! Plötzlicher Tod von Vater / Mutter, hatte ich in den letzten Jahren immer :schisset: Selbstmordversuche von Mitschülern! Plötzlicher Tod von Mitschülern! Körperlicher und sexueller Missbrauch! Verwahrlosung! Sorgerechtsstreit! Rund 20 verschiedene Religionen und ihre spezifischen Wünsche! Drogenkonsum! Schulverweigerung! Kriminalität (hält sich bei uns sehr in Grenzen) und und und Unterschiedliche Bildungsnähe / Gesellschaftliche Phänomene: Die musikalisch hochbegabte Tochter des Porschemitarbeiters trifft auf den Sohn streng muslimischer Einwanderer, der sich zwar fühlt wie der Pascha, aber weder die Aufgabenstellungen auf den Arbeitsblättern lesen, noch sich in der 6. Klasse die Schuhe binden kann (macht immer die Mama). Dazu kommt das Kleinstadtkind !!! Das noch nie im Leben eine Kuh gesehen hat, weil es mit seinen Eltern noch nie wirklich in der unmittelbaren Umgebung war :schisset: Und Kühe gibt bei uns überall!!! Oder die überbehüteten Schülerinnen (Mehrzahl), die in der 7. Klasse Angst haben ein Streichholz anzuzünden, bzw. bei denen die Feinmotorik so verkommen ist, dass sie das Streichholz dabei immer wieder abbrechen ... Das ist die Praxis Eigentlich müsste ich ja hoch frustriert sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich liebe meine Schüler und meinen Job, denn es gibt täglich neue Herausforderungen. Allerdings ist die Belastung nicht zu unterschätzen und kann einen manchmal ganz schnell an seine Grenzen führen. Fazit 1: Es gibt viele gute pädagogischen Konzepte, doch nicht alles lässt sich 1:1 auf die Realität übertragen, denn häufig wird dabei nicht nur die materielle Situation ausgeblendet, sondern vor allem die Menschen (Schüler, Lehrer, Eltern) die diese Konzepte tragen oder ertragen müssen. Dass ich hier soviel schreibe hängt auch nur damit zusammen, dass ich gerade krank zu Hause liege Sonst hätte ich nicht die Zeit. In einem zweiten Teil möchte ich euch noch etwas tiefer in der praktischen Irrsinn und den Wiederspruch zwischen Theorie und Realität mitnehmen. Also bleibt gespannt
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