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Was kommt nach den Raketen? Wieder Raketen?


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interessanter Artikel in der NZZ:

26. August 2006, Neue Zürcher Zeitung

Was kommt nach den Raketen? Wieder Raketen?

Israel hat guten Grund und auch das Recht, einen zweiten Holocaust zu fürchten

Von György Konrád

3. August. Vor einer halben Stunde habe ich im Fernsehen gebrechliche Zwerge gesehen. Auf dem Rücken gesunder Journalisten. Wenn es sonst niemanden gibt, dann tragen sie diese Wesen zu einem Auto, um sie an einem Ort abzusetzen, wo keine allzu grosse Bombengefahr besteht. Aus eigener Kraft hätten die Zwerge sich nicht in Sicherheit bringen können. Sie werden sozusagen ins Nichts transportiert, aus südlibanesischen Dörfern evakuiert, wo islamistische Milizen Raketenabschussbasen installiert haben, um israelische Siedlungen zu beschiessen.

Mit punktuellen kriegerischen Aktivitäten werden heute am ehesten die Israeli konfrontiert, weiterhin die Amerikaner und letztlich auch die Europäer. Der Friede war bisher der relativen Vernunft der sich gegenüberstehenden Parteien zu verdanken. Man konnte wissen, wer der Stärkere war, und der Schwächere ging nicht auf ihn los, vermied den Selbstmord. Bis zu einer gewissen Grenze. Das Gleichgewicht der Abschreckung, der Bedrohung und der Angst gewährte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg einen langen Frieden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hielt die Angstvision eines kollektiven nuklearen Holocaust die Führer der Militärblöcke in Ost und West von kriegerischen Auseinandersetzungen und Provokationen ab. Keine der beiden Seiten verkündete, dass sie nicht bereit wäre, sich mit dem Kontrahenten auszusöhnen und im Gegenteil vielmehr die Auslöschung, die Vernichtung des anderen anstrebe.

Raketen auf Nachbarn

Der jüdische Staat im Nahen Osten muss dieser Bedrohung und Möglichkeit jetzt ins Auge sehen. In nicht allzu weiter Ferne zieht am Horizont die Gefahr eines zweiten Holocaust auf. Wenn es an jenen läge, die sich so etwas herbeiwünschen, und wenn die Israeli solche Tauben wären, die sich zum Selbstbildnis eines schutzlosen Opfers bekennen, könnte dies Wirklichkeit werden.

Was sollte eine Minderheit der libanesischen Bevölkerung, die schiitisch-muslimische, dazu veranlassen, Raketen auf ihre Nachbarn zu richten und ihr Hauptziel darin zu erblicken, diese zu Tausenden abzuschiessen? Warum sollte ein Nachbar den Nachbarn vernichten wollen? Warum sollten arme Menschen nicht an wechselseitigem Gedeihen und Wachstum interessiert sein?

Warum sollten die libanesischen Schiiten nicht begreifen, dass sie sich einem törichten Unternehmen verschrieben haben, wenn der Gegenschlag sehr hart sein würde? Nur freiwillige oder erzwungene Verblendung kann sie auf einen so selbstzerstörerischen Weg führen. Aus Angst vor Vergeltung, sollte ihm der Gehorsam verweigert werden, fügt sich die südlibanesische Zivilbevölkerung dem Hizbullah, der seinerseits Angst vor Teheran hat, ebenso wie anno dazumal die Satelliten des Sowjetblocks vor Moskau.

In der Zeit, als sie sich auf dem Gipfel ihrer Macht befanden, forderten sowohl der Nazismus als auch der Kommunismus von ihren Bürgern bedingungslose Hingabe bis hin zur Selbstvernichtung. Doch die Führung schwankte zwischen vernünftigen und wahnsinnigen Befehlen, zwischen pragmatischen und dogmatischen Standpunkten. Hitler und Stalin schonten die Bevölkerung nicht, das Leben der Deutschen und der Russen war ihnen nicht teuer. Wie beide die übliche Praxis des dritten, des islamistischen Totalitarismus beurteilt hätten, die zivile Bevölkerung als Schutzschild, als Propagandainstrument in Geiselhaft zu nehmen, wissen wir nicht.

Nach einer neueren Meinungsumfrage sind vier von fünf Deutschen der Meinung, dass Israel kein Recht habe zurückzuschlagen. Es sei traurig, wenn die Israeli beschossen würden, doch sie hätten kein Recht zurückzuschiessen. Zwar sei es nicht richtig, dass die islamistischen Milizen Israels Vernichtung wollten, doch da sie das Vertrauen der Mehrheit genössen, sei dies des Volkes Wille, und gegen das Volk dürfe keine Gewalt angewendet werden.

Wirkungsvolle Propaganda

Daraus folgt, dass die Propaganda des islamistischen Jihad nicht erfolglos ist. Die Raketen mit Menschenleibern zu umgeben und die Getöteten, die Trümmer, die Trauernden, die Wehklagenden, die Bilder echten Schmerzes zu zeigen, all das ist imstande, den sensiblen Zuschauer, für den die Politik nur Worte sind, die Leichname dagegen Wirklichkeit, gegen Israel einzunehmen. Worte und Ideen heizen auch diese neue Expansion an. Statt einer Ideologie ist jetzt wieder die Religion das Motiv zum Morden, und der bedrohte Westen hat in Israel eine wunderbare Ersatzzielscheibe gewonnen. Europa hat die Juden um die Zeit des Zweiten Weltkriegs verstossen und einem Teil von ihnen angeboten, heimzukehren ins Heilige Land, jedenfalls weg von hier. Und jetzt sehen die braven Europäer, dass sich die Kinder und Enkel der Juden aus dem Nahen Osten nicht auch vertreiben lassen. Das verblüfft sie derart, dass sie jedenfalls für die Araber Partei ergreifen und gegen die Israeli Stellung beziehen. Den ermordeten Juden steht ein Denkmal zu, doch die am Leben gebliebenen sollen nicht zurückschiessen und auf einen Sieg verzichten. Das professionelle Opfer darf bestimmungsgemäss nie siegen.

Wenn fünf Millionen Juden, welche die Sprache der Bibel sprechen und die Geschichten des Alten Testaments im Gedächtnis behalten, die Lage dahingehend beurteilen, dass es um ihre Existenz geht, dann besitzt eine solche Entscheidung eine düstere Realität. Der überwiegende Teil der israelischen Juden, der das Verhalten seiner Regierung billigt, hat begriffen, dass er sich eine sanfte Resignation nicht leisten kann.

Israel ist ein Land, das durch eine einzige nukleare Bombe vernichtet werden könnte. Die israelischen Führer haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es kein billiges Vergnügen sein darf, einen Juden zu töten.

Dem Leben des Einzelnen kommt ein hoher Wert zu. Im Tausch für einen einzigen Israeli werden viele palästinensische Gefangene freigelassen, die des bewaffneten Widerstands verdächtigt werden. Nichts wünschen sich die Juden sehnlicher, als dass auch die muslimische Umgebung dem Leben eines Menschen, dem eigenen und dem ihrer Angehörigen, ebensolche Wertschätzung entgegenbringen möge.

Die Raketen in Libanon können von der militärischen Übermacht des Staates entfernt werden, wenn es denn eine solche gäbe. Es stellt sich die Frage, ob es je einen souveränen und demokratischen Rechtsstaat geben wird, eine Republik Libanon, die vernünftigerweise nicht einfach nur so ihren Nachbarn beschiessen wird. Es stellt sich die Frage, inwieweit es möglich sein wird, eine haltbare Feuerpause zu erreichen, und welches Land bereit sein wird, seine Soldaten als Friedensmacht in einer Region einzusetzen, wo gegenseitiges und massenhaftes Niedermetzeln von Mitbürgern - wie im schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg im Irak - mit geistlicher Billigung geschehen kann. Es ist anzunehmen, dass nur die am ehesten interessierten Parteien zu einem solchen Opfer bereit sein werden.

Einigender Hass

Die Gegensätze innerhalb der Welt des Islams lassen sich vorübergehend vor allem durch die Feindschaft gegen Israel überbrücken. Wenn es niemanden mehr gibt, dem man gemeinsam Hass entgegenbringen kann, wird man übereinander herfallen, und es gibt kein neues Kalifat, keine islamische Weltrepublik. Das kollektive Feindbild begründet und rechtfertigt die eigene Zurückgebliebenheit nicht, doch lenkt es die Leidenschaften in den Kanal schwärmerischer Vereinfachung.

Islamischer Antijudaismus und christlicher Antisemitismus berühren einander.

Dass die Existenz Israels für den Islamismus unannehmbar ist - kann sein. Warum aber sollten die denkenden Menschen in den muslimischen Ländern die geistigen Gefangenen des radikalen Islamismus sein? Und warum sollten die denkenden Menschen in den christlichen Ländern die geistigen Gefangenen des radikalen Islamismus sein? Keinerlei Moral verpflichtet zum Verstehen der Judenfeindlichkeit.

György Konrád, 1933 in Debrecen geboren, gehört zu den grossen ungarischen Gegenwartsschriftstellern. Zuletzt erschien 2005 im Suhrkamp-Verlag «Sonnenfinsternis auf dem Berg», Konráds autobiografische Erinnerungen an die Nachkriegszeit.

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