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In Israel ändert sich nichts, außer der Vergangenheit


anna

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Uri Avnery

Übersetzung Ellen Rohlfs

Napoleon gewann die Schlacht bei Waterloo. Die deutsche Wehrmacht siegte im 2.Weltkrieg. Die USA gewann den Vietnamkrieg und die Sowjets in Afghanistan. Die Zeloten besiegten die Römer, und Ehud Olmert gewann den 2. Libanonkrieg.

Sie wußten das nicht? Nun, während der letzten paar Tage haben die israelischen Medien eine lange Reihe von Experten aufmarschieren lassen, die keinerlei Raum für Zweifel ließen: der Krieg brachte uns große Errungenschaften, die Hizb Allah war vernichtend geschlagen worden, Olmert ist der große Sieger.

Die Gastgeber der Fernseh-Talkshows und die Moderatoren stellten ihre Mikrophone in den Dienst von Professoren, Öffentlichkeitsexperten, "Sicherheitsleuten" und "Strategen" (ein Titel, der nicht Generäle bezeichnet, sondern Berater von Politikern). Alle stimmten darin überein: es war ein wirklicher Sieg.

Als ich gestern den Fernseher anschaltete, sah ich eine Person, die mit großer Selbstsicherheit erklärte, da0 unser Sieg im Libanon den Weg für einen unvermeidlichen Krieg mit dem Iran ebnet. Die Analyse, die fast vollständig aus Klischees zusammengesetzt war, entsprach der eines Gymnasialschülers. Ich konnte es nicht fassenn, als ich erfuhr, daß der Mann ein früherer Chef des Mossad war. Auf jeden Fall haben wir diesen Krieg gewonnen und wir werden den nächsten gewinnen.

Deshalb ist eine Untersuchungskommission gar nicht nötig. Was gibt es denn zu untersuchen? Alles, was wir brauchen, sind ein paar Komitees, die kleine, hier und dort geschehene Schnitzer klären.

Rücktritte sind absolut unnötig. Warum, was ist denn geschehen? Sieger treten nicht zurück! Ist Napoleon nach Waterloo zurückgetreten? Traten die Präsidenten Johnson und Nixon nach dem, was in Vietnam geschehen war, zurück? Sind die Zeloten nach der Zerstörung des Tempels zurückgetreten?

Spaß beiseite, die Parade von Olmerts Handlangern beim Fernsehen, dem Radio und den Zeitungen zeigt uns etwas. Nicht über die Errungenschaften von Olmert als Staatsmann und Stratege, sondern über die Integrität der Medien.

Als der Krieg ausbrach, schlossen sich die Medienleute an und marschierten im Gleichschritt als Propaganda-Bataillon. Alle Medien ? ohne Ausnahme ? wurden Teile der Kriegsmaschine, sie scharwenzelten um Olmert, Peretz und Halutz, wurden beim Anblick der Zerstörungen im Libanon immer enthusiastischer und sangen Loblieder auf die "Standhaftigkeit der zivilen Bevölkerung" im Norden Israels. Die Öffentlichkeit wurde ständigen Siegesnachrichten ausgesetzt, die buchstäblich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht liefen.

Die Regierung und die Militärsprecher bestimmten gemeinsam mit Olmerts Propagandateam, wann was veröffentlicht wurde und was noch wichtiger ist, was verschweigen wurde.

Das fand seinen Ausdruck in der "Wortwäsche". Anstelle von präzisen Wörtern kamen mißverständliche Ausdrücke: als im Libanon schwere Kämpfe tobten, sprachen die Medien von "Schußwechseln". Der feige Hassan Nasrallah "versteckte" sich in seinem Bunker, während unser tapferer Generalstabschef von seinem Untergrundkommandoposten ("das Loch" genannt) aus die Operationen leitete.

Die feigen "Terroristen" der Hizb Allah versteckten sich hinter Frauen und Kindern und operierten mitten aus den Dörfern - völlig anders als unser Verteidigungsministerium und Generalstab, die im dichtbevölkertsten Teil Israels angesiedelt sind. Unsere Soldaten waren nicht bei einer Militäraktion gefangengenommen sondern "entführt" worden wie Opfer von Gangstern, während unsere Armee die Führer von Hamas "verhaftete". Die Hizb Allah wird ? wie wir alle wissen - vom Iran und von Syrien "finanziert", anders als Israel, das "großzügige Unterstützung" von unserm großen Freund und Verbündeten, den USA, erhält.

Da gab es natürlich einen Unterschied wie Tag und Nacht zwischen der Hizb Allah und uns. Wie kann man nur vergleichen? Schließlich feuerte die Hizb Allah mit der ausdrücklichen Absicht, Zivilisten zu töten, Raketen auf uns ab, und tötete tatsächlich etwa dreißig von ihnen. Während unser Militär, "die moralischste Armee der Welt", sich große Mühe gab, keine Zivilisten zu verletzen und deshalb nur etwa 800 libanesische Zivilisten, die Hälfte davon Kinder, ihr Leben bei den Bombardements, die alle nur auf militärische Ziele gerichtet waren, verloren.

Kein General konnte sich mit den Militärkorrespondenten und Kommentatoren vergleichen, die täglich im Fernsehen in eindrucksvollen militärischen Posen erschienen und über den Kampf berichteten und ein tieferes Eindringen in den Libanon forderten. Nur sehr aufmerksame Beobachter bemerkten, daß sie die Kämpfer gar nicht begleiteten und auch nicht die Gefahren und Schmerzen der Schlacht teilten ? etwas sehr wesentliches bei einer ehrlichen Kriegsberichterstattung. Während des ganzen Krieges sah ich nur zwei Reportagen, die wirklich den Geist der Soldaten reflektierten ? die eine von Itay Angel und die andere von Nahum Barnea.

Der Tod von Soldaten wurde im allgemeinen erst nach Mitternacht gemeldet, wenn die meisten Menschen schon schliefen. Während des Tages sprachen die Medien nur von "verletzten" Soldaten. Der offizielle Vorwand war der, daß das Militär erst die Familien verständigen müsse. Das stimmt zwar ? aber nur hinsichtlich der Namen der gefallenen Soldaten. Es betrifft keinesfalls die Zahl der Toten. (Die Öffentlichkeit hat allerdings schnell begriffen und verstanden, daß "verwundet" "getötet" bedeutet.)

Natürlich waren unter den fast tausend Menschen, die während des Krieges von den Fernsehstudios eingeladen worden waren, um ihre Ansichten zu äußern, praktisch keine Stimmen, die den Krieg selbst kritisierten. Zwei oder drei, die aus Alibi-Gründen eingeladen worden waren, wurden als lächerliche und irre Typen hingestellt. Zwei oder drei arabische Bürger waren auch eingeladen worden, aber die Talkmaster fielen über sie wie Jagdhunde über ihre Beute her.

Wochenlang unterdrückten die Medien die Tatsache, daß hunderttausende Israelis den bombardierten Norden verlassen hatten und nur die Ärmsten zurückgelassen wurden. Das hätte die Legende von der "Standhaftigkeit des Hinterlandes" erschüttert.

Alle Medien (mit Ausnahme des Internets) unterdrückten vollständig die Nachrichten über die Demonstrationen gegen den Krieg, die fast täglich stattfanden und die schnell von einigen Dutzenden am Anfang zu Hunderten und Tausenden anwuchsen. (Nur Kanal 1 widmete mehrere Sekunden der kleinen Demonstration von Meretz und Peace Now, die kurz vor Kriegsende stattfand. Beide Gruppen hatten den Krieg fast bis zum Ende begeistert unterstützt.)

Ich sage dies nicht als Professor für Kommunikationswesen oder als verärgerter Politiker. Ich bin von Kopf bis Fuß ein Medienmensch. Seit meinem 17. Lebensjahr habe ich als Journalist, Reporter, Kolumnist und Redakteur gearbeitet und ich weiß sehr wohl, wie Medien von moralischer Integrität arbeiten sollten. (Den einzigen Preis, den ich jemals in meinem eigenen Land erhielt, wurde mir von der Journalisten-Vereinigung für mein "Lebenswerk im Journalismus" verliehen.)

Übrigens denke ich nicht, daß das Verhalten unserer Medien schlechter war als das ihrer amerikanischen Kollegen zu Beginn des Irakkrieges oder der britischen Medien während des lächerlichen Falkland/Malvinas-Krieges. Aber die Skandale der anderen können kein Trost für unsere eigenen sein.

Vor dem Hintergrund dieser massiven Gehirnwäsche muß man vor den wenigen - die man an den Fingern beider Hände abzählen kann - die sich nicht dem allgemeinen Chor angeschlossen haben und die in den Druckmedien ihre Kritik äußerten, so weit es ihnen erlaubt war, den Hut ziehen. Die Namen sind wohlbekannt und ich werde sie nicht aufzählen, aus Sorge, jemanden zu übersehen und damit eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Sie können erhobenen Hauptes gehen. Das Problem liegt darin, daß ihre Kommentare nur auf den Meinungsseiten erschienen, die einen begrenzten Einfluß haben, jedoch auf den Nachrichtenseiten und in den Nachrichtenprogrammen völlig fehlten , die die tägliche öffentliche Meinung gestalten.

Wenn die Medienleute jetzt leidenschaftlich über die Notwendigkeit aller möglichen Untersuchungskommissionen und -komitees diskutieren, sollten sie vielleicht ein persönliches Beispiel geben und eine Untersuchungskommission aufstellen, die die Aktionen der Medien selbst zu einem Zeitpunkt der höchsten Bewährungsprüfung untersucht.

In Goethes "Faust" stellt sich der Teufel selbst dar als die "Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Nun ich will, Gott bewahre, die Medien nicht mit dem Teufel vergleichen, aber das Ergebnis ist dasselbe: durch die begeisterte Unterstützung des Krieges verschlimmerten die Medien das Gefühl des Fehlschlages, das danach folgte, und das womöglich am Ende sogar noch einen positiven Einfluß hat.

Die Medien nannten die Hizb Allah eine "Terrororganisation" und erweckten so den Eindruck einer kleinen Gruppe von "Terroristen" mit vernachlässigbaren Fähigkeiten. Als sich herausstellte, daß es sich um eine effiziente und gut ausgebildete militärische Kraft mit mutigen und entschlossenen Kämpfern, effektiven Raketen und anderen Waffen handelt, die gegen unsere riesige Militärmaschine 33 Tage durchhalten konnte, ohne zusammenzubrechen, wurde die Enttäuschung sogar noch größer.

Nachdem die Medien unsere Militärkommandeure als Supermänner gerühmt und auf jede einzelne ihrer Prahlereien mit Lobhudelei reagiert hatten, fast, als ob sie göttliche Offenbarungen wären, wurde die Enttäuschung noch größer, als sich ernsthafte Fehler in der Strategie, der Taktik, im Nachrichtendienst und der Logistik auf allen Ebenen des Oberkommandos gezeigt hatten.

Das trug zum gründlichen Wechsel der öffentlichen Meinung, der schon vor Kriegsende einsetzte, bei. So erhöht, wie das Selbstvertrauen gewesen war, so tief war nun das Gefühl des Versagens. Die Götter hatten versagt. Dem Kriegsrausch folgte am nächsten Morgen der Katzenjammer.

Und wer rennt auf dem Weg zum Platz der Guillotine an der Spitze des Mobs, der nach Rache schreit? Natürlich die Medien.

Ich kenne nicht einen einzigen Talkshow-Gastgeber, Moderator, Reporter oder Redakteur, der seine Schuld bekennt und um Vergebung für seinen Teil an der Gehirnwäsche gebeten hat. Alles was gesagt, geschrieben oder photographiert worden ist, wurde weggewischt. Es ist einfach nie passiert.

Jetzt, da der Schaden nicht mehr repariert werden kann, setzen sich die Medien an die Spitze derjenigen, die die Wahrheit verlangen und nach Strafe für all die skandalösen Entscheidungen schreien, die von der Regierung und dem Generalstab getroffen wurden: die unnötige Verlängerung des Krieges nach den ersten sechs Tagen, das Im-Stich-lassen des Hinterlands, die Vernachlässigung der Reserve, das Heer nicht am Tag X, sondern erst am Tag Y in den Libanon geschickt zu haben, die Ignorierung des Aufrufs der G8-Staaten zur Feuerpause und so weiter.

Aber Moment mal ?

Während der letzten paar Tage könnte sich das Blatt noch einmal wenden. Wie bitte? Wir haben den Krieg nicht verloren? Moment mal ? wir haben gewonnen? Nasrallah hat sich entschuldigt? (Nach strengen Befehlen von oben wurde das volle Interview mit Nasrallah nicht ausgestrahlt, aber die eine Passage, in der er einen Fehler zugegeben hat, wurde wieder und wieder ausgestrahlt.)

Die sensiblen Nasen der Medienleute spürten eine Veränderung der Windrichtung. Einige haben nun auch schon den Kurs verändert. Wenn es eine neue Welle in der öffentlichen Meinung gibt, warum sollte man nicht auf ihr reiten? Oder?

Wir nennen dies den "Altalena-Effekt".

Für die, die es nicht wissen oder es schon vergessen haben: Die Altalena war ein kleines Schiff, das in der Mitte des Krieges von 1948 an der Küste Israels ankam, eine Gruppe der Irgunleute und eine große Menge Waffen an Bord hatte, deren Bestimmung nicht klar war. David Ben-Gurion fürchtete einen Putsch und befahl, das Schiff vor der Küste Tel Avivs zu bombardieren. Einige der Männer wurden dabei getötet, Menachem Begin, der an Bord gegangen war, wurde ins Wasser gestoßen und gerettet. Das Schiff sank, die Irgun wurde zerstreut und seine Mitglieder schlossen sich der neuen israelischen Armee an.

29 Jahre später kam Begin an die Macht. Alle Karrieristen schlossen sich ihm eiligst an. Und im Rückblick sah es so aus, als wäre praktisch jeder an Bord der Altalena gewesen. Das kleine Boot wuchs zu einem riesigen Flugzeugträger heran - bis der Likud seine Macht verlor und die Altalena wieder auf die Größe eines Fischerbootes zusammenschrumpfte.

Der 2.Libanonkrieg war eine mächtige Altalena. Alle Medien versammelten sich auf dem Deck. Aber am Tag, nachdem der Krieg vorüber war, erfuhren wir, daß dies eine optische Täuschung war: absolut niemand war dort gewesen, außer dem Kapitän Olmert, dem 1. Offizier Peretz und dem Steuermann Halutz. Das kann sich jetzt allerdings jeden Augenblick ändern, wenn die vertrauensvolle Öffentlichkeit überzeugt werden kann, daß wir den Krieg trotz allem gewonnen haben.

Wie schon früher gesagt: in Israel ändert sich nichts, außer der Vergangenheit.

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