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Neuer Kalter Krieg oder gemeinsame Sicherheit


357.mag

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Ein Jahrzehnt trennt uns nun vom Ende einer Weltordnung, die geprägt war von der gefährlichen Konfrontation zweier Gesellschaftssysteme und Machtblöcke. An seinem Anfang stand der hoffnungsvolle Aufbruch der KSZE-Staaten in "ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit". Es sollte, beflügelt von dem neuen sicherheitspolitischen Denken, "gleiche Sicherheit für alle unsere Länder" (1) bringen. Der Abstand einer Dekade läßt es im gewissen Grade zu, unter historischem Blickwinkel zu betrachten, was aus den Hoffnungen und Verheißungen von damals geworden ist und welche Beschaffenheit der Frieden in der neuen Weltordnung angenommen hat.

Schon bevor in dem militarisierten Systemkonflikt die eine der beiden Seiten in sich zusammengebrochen war und den Kalten Krieg gegenstandslos gemacht hatte, war der politische Wille entstanden, ihn aus Gründen eigener Überlebensinteressen zu beenden. Dem Kalten Krieg, der mehr als vier Jahrzehnte die Welt in Bann geschlagen und die gesamte Menschheit mit dem Atomtod bedroht hatte, sollte eine stabile Weltfriedensordnung folgen, beruhend auf der Anerkennung gleicher Sicherheit für alle Staaten, auf Vertrauen und Zusammenarbeit, auf Gewaltverzicht und Abrüstung, also ein Frieden neuer Art.

Damals hatte die Erkenntnis ins politische Denken in Ost und West Einzug gehalten, daß es im Interesse beider Seiten und aller Staaten notwendig ist, Friedenssicherung nicht mehr auf die Drohung mit gegenseitiger Vernichtung zu gründen. Der waffenstarrende Frieden, der wesentlich mit unfriedlichen Mitteln, mit der Fähigkeit zum alles vernichtenden Krieg aufrecht erhalten worden war, sollte ersetzt werden durch einen Frieden, der auf seinen eigenen Grundlagen ruht und mit ihm wesenseigenen Mitteln gesichert wird, womit er sich allmählich aus einem negativen in einen positiven Frieden wandelt.

Fragt man nun nach den seitdem verflossenen zehn Jahren, was aus diesem vielversprechenden sicherheitspolitischen Denken geworden ist, so muß man nüchtern feststellen, daß es seine die Politik bewegende Kraft verloren hat. Nach zehn Jahren zeichnen sich nun schon deutlich wahrnehmbar die Konturen der neuen Weltordnung ab. Es wird erkennbar, welche Stellung Frieden und Krieg in ihr einnehmen und welchen Charakter der Frieden und die Kriege in der neuen Weltordnung tragen.

Hier springt als erstes ins Auge, was die heutige Sicherheitsordnung von der des Kalten Krieges unterscheidet. Zum einen ist das die Tatsache, daß der Hauptkonflikt jetzt nicht mehr der zwischen zwei gegensätzlichen sozialen Systemen ist. Zum anderen ist ein weiteres Merkmal, das den Kalten Krieg kennzeichnete, abhanden gekommen, nämlich die Bipolarität des militarisierten Konflikts und der globalen Sicherheitsstruktur.

Waren aber der Konflikt sozialer Systeme und die Bipolarität der Sicherheitsstruktur diejenigen Merkmale, die das Wesen des Kalten Krieges bestimmten und ihn zur Gefahr für das Überleben der menschlichen Gattung gemacht hatten? Doch wohl nicht. Vielmehr war der Kalte Krieg eine Form der Politik, die den Krieg ersetzen sollte - einesteils, weil die Antipoden Krieg gegeneinander aus wohlverstandenen Interessen nicht wollten, und andernteils, weil die geschaffenen Mittel des Krieges, namentlich die Atomwaffen, über den Zweck des Krieges hinausgewachsen waren und deswegen der Krieg zur Entscheidung des Hauptkonflikts untauglich geworden war, unabhängig davon, ob eine Seite ihn führen oder verhindern wollte.

Der Kalte Krieg war ein Krieg der schweigenden Waffen. Das halte ich für den treffendsten Ausdruck, mit dem das Wesen des Kalten Krieges auf den Begriff gebracht werden kann. Es herrschte Frieden, insofern die Waffen schwiegen, aber es wurde projiziert, was geschehen würde, wenn die Waffen sprechen. Bedrohung mit Krieg - eben darin besteht das Wesen militärischer Abschreckung. Sie bedeutet, den Krieg zu denken, fähig und bereit zu sein zum Krieg. Der Kalte Krieg war ein ständiger, mit hohem Einsatz und Risiko geführter Kampf um den Besitz der wirksamsten Waffen und die Fähigkeit, sie gegeneinander einzusetzen. Und die Bedingung dafür, daß es beim Krieg der schweigenden Waffen blieb, war die Übereinkunft, sich an Regeln zu halten, die vermeiden, daß die Waffen zu sprechen beginnen.

Der Friedensordnung der Nachkriegszeit hatte man eben deshalb metaphorisch den Namen Kalter Krieg gegeben, weil in ihr der Kampf zweier sozialer Systeme und Machtblöcke unerbittlich ausgefochten wurde, er aber nicht mit einem Krieg gegeneinander entschieden werden konnte. "Krieg" steht in dieser Wortverbindung dafür, daß die Antipoden den Kampf gegeneinander mit einer Feindseligkeit und Schärfe führten, wie das für den Krieg typisch ist, und das Attribut "kalt" bedeutet, daß dieser Kampf unterhalb der Schwelle zum Krieg geführt wird.

Mit dem Namen Kalter Krieg wurde also ein Frieden bezeichnet, der wesentlich auf dem Gegenteil von Friedlichkeit beruhte, nämlich auf feindlicher Konfrontation und Kriegführungsfähigkeit, der aber nicht gebrochen werden durfte, weil das für jede der Konfliktseiten eine unannehmbare Schädigung vitaler Interessen zur Folge gehabt hätte. Dieser Frieden ist deshalb auch charakterisiert worden als das Balancieren am Rande des Krieges. Es handelte sich also um eine niedere Qualität von Frieden auf dem Niveau von Nichtkrieg, um einen prekären Frieden. Der Kalte Krieg entspricht im Sinne der von Johan Galtung gebrauchten Unterscheidung von negativem und positivem Frieden einem negativen Frieden auf unterem Niveau.

Der neue Kalte Krieg

Beurteilt man nun Frieden und Sicherheit in der jetzt entstehenden Weltordnung, so findet man im Grunde die Merkmale, die das Wesen des Kalten Krieges ausmachten, wieder vor, wenn auch in neuer historischer Form:

1. Die Politik der militärischen Stärke und atomaren Abschreckung

Der globale Frieden in der neuen Weltordnung wird geprägt und gestützt von Macht, letztlich ganz entscheidend von militärischer Macht. Die militärische Stärke als das Hauptinstrument des Kalten Krieges wird auf Hightech-Basis weiter ausgebaut und dient als Ultima Ratio der Politik, mit der die westlichen Hegemonialstaaten ihre wirtschaftliche und politische Vorherrschaft absichern und die übrigen Großmächte ihnen gegenüber und in dem von ihnen beanspruchten Interessengebiet ihre vitalen Sicherheitsinteressen wahren.

Die Overkillkapazität an Atomwaffen und an Trägermitteln, die sie in jedes Ziel bringen können, existiert weiter, und damit bleibt auch jene Gefahr der Menschheitsvernichtung bestehen, die im Kalten Krieg erzeugt worden ist und ihn schließlich in Frage gestellt hat. Das damalige System gegenseitiger Abschreckung und Vernichtung wird noch aufrecht erhalten zwischen den USA und Rußland (siehe ABM-Vertrag). Gelänge es den USA, sich mit "National Missile Defense" (NMD) vor atomaren Schlägen zu schützen - was unwahrscheinlich ist -, würde die Vernichtungsgefahr nicht aufgehoben, sondern das System gegenseitiger Vernichtung in ein System einseitiger Vernichtung umgewandelt, was keineswegs besser für den Frieden wäre.

Daß an die Stelle des bipolaren Konflikts sozialer Systeme jetzt ein multipolarer Konflikt konkurrierender Großmächte tritt, ändert nichts am Wesen der Sache, nämlich daran, daß es sich um die Militarisierung von Konflikten handelt. In den Kernbereichen der alten und neuen geostrategischen Großmachtkonflikte bleiben mit der atomaren Bewaffnung die Bedingungen bestehen, die Kriege zu ihrer Lösung sinnlos und untauglich machen, was nicht bedeutet, daß sie nicht ausbrechen können.

Die größte Gefahr, die des atomaren Menschheitstodes, ist zwar nicht mehr so akut wie im damaligen Kalten Krieg, aber sie bleibt weiter vorhanden. Sie wird um so größer, je länger die stärksten Atommächte die Abschaffung der Atomwaffen verweigern. Das Festhalten der NATO an der atomaren Ersteinsatzdoktrin und die Rückkehr Rußlands zu ihr erhöhen die Atomkriegsgefahr. Die von der Gefahr des Gattungsgenozids bewirkte Selbstabschreckung vor dem Gebrauch der alles vernichtenden Waffen wird durch die entstehende Multipolarität der Sicherheitsstruktur und die Ungleichgewichte zwischen den Konfliktseiten vermindert, und die atomare Einsatzschwelle sinkt tendenziell.

War für den Kalten Krieg der Systeme charakteristisch, daß der prekäre Frieden, der im Zentrum des Konflikts bestand, durch Stellvertreterkriege an der Peripherie ergänzt wurde, so setzt jetzt die einzig verbliebene Supermacht selbst, meist im Verein mit ihren Verbündeten, ihre überlegene Militärmacht in asymmetrischen Kriegen ein. Das Militärbündnis des reichen Westens formiert sich zu einer global operierenden Interventionsstreitmacht, um eigene Interessen nach eigener Macht und eigener rechtlicher Beurteilung gewaltsam durchzusetzen, soweit nicht mit gleichwertiger Gegenwehr oder gar mit atomarer Reaktion gerechnet werden muß. Das bedeutet, daß sich in den westlichen Demokratien wie zu Zeiten kolonialer Eroberung und Besetzung die Gesellschaft zu Hause im Frieden befindet, während ihre Streitkräfte zugleich in der Fremde Krieg führen.

2. Die Politik der Feindschaft und der konfrontativen Sicherheit

Ein wesentliches Merkmal des Kalten Krieges war, daß die Konfliktparteien sich als Feinde wahrnahmen und begegneten. Feindschaft zog die scharfe Linie der Abgrenzung und Konfrontation. Jede Seite sorgte für die eigene Sicherheit und trachtete danach, die Sicherheit der Gegenseite aufzuheben oder herabzusetzen.

Der tiefste Grund für den feindseligen Charakter dieses Friedens lag in dem Ziel, das gegnerische Gesellschafts- und Wertesystem zu überwinden und es in das eigene zu transformieren.

Es handelte sich um die feindliche Konkurrenz zweier Eigentumssysteme und Machtblöcke auf allen Gebieten, politisch, militärisch, wirtschaftlich, ideologisch und kulturell. Kriegsideologie steigerte die objektiv gegebene Gegnerschaft zu einer von blindem Haß genährten Feindschaft. Feindfähigkeit machte sie zur Bedingung für den Sieg im Kalten Krieg, denn sonst verliere man den Frieden. Absichtsvoll wurde der Gegner in Feindbildern verzeichnet und entmenscht, um den Einsatz jedes Mittels im Kampf zu rechtfertigen. Hierin übertrafen die westlichen Demokratien die östlichen Diktaturen bei weitem.

In der neuen Weltordnung ist die feindliche Konkurrenz zweier Eigentumssysteme und Machtblöcke abgelöst worden durch die Konkurrenz des einen Machtblocks mit der übrigen Welt, respektive deren Großmächten auf der Grundlage ein und desselben Eigentumssystems. Das nimmt der Feindschaft zwar die Schärfe des fundamentalen Gegensatzes der Gesellschaftsordnungen, aber es liegt in der Natur dieses nun allein herrschenden Eigentumssystems, daß es feindliche Konkurrenz erzeugt. So schrieb "Die Zeit" unter der bezeichnenden Überschrift "Der Kalte Krieg ist noch lange nicht vorbei": Der "Wettlauf um die öl- und Gasreserven in Mittelasien führt zur Konfrontation zwischen Moskau und Washington". Der Rückfall Moskaus und Washingtons "in alte Konfliktmuster" beschränke sich aber nicht auf das Ringen um Energiereserven, sondern manifestiere sich auch "im neuen Wettrennen um die Waffenmärkte". (2)

Die Trennungslinie wird jetzt nicht mehr von den verschiedenen Eigentumssystemen gezogen, sondern von der Stellung der Antipoden im global herrschenden Kapitalverhältnis. So verläuft die Konfliktlinie hauptsächlich zwischen Kapitaleignern und Kapitalabhängigen auf internationaler Ebene, zwischen Staaten und anderen Zusammenschlüssen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten. An die Stelle des Ost-West-Konflikts ist in diesem Sinne der Nord-Süd-Konflikt getreten, der Konflikt zwischen der reichen und der armen Welt.

Die "einzige Weltmacht" will in Kooperation und Konkurrenz mit ihren Bündnispartnern diesen Konflikt mit einem monopolaren System globaler Sicherheit beherrschen. Sie benutzt die Atlantische Allianz als den Schild unverwundbarer militärischer Überlegenheit und als das furchteinflößende und unwiderstehliche Schwert des globalen Militärinterventionismus. Insofern reproduziert sich in neuer Form sogar die Bipolarität der globalen Sicherheitsstruktur.

In all den kriegerisch ausgetragenen Konflikten, die wir seit dem Ende des Kalten Krieges erlebten, sind alle Register gezogen worden, um den jeweiligen Gegner in den Augen der Öffentlichkeit als Feind erscheinen zu lassen, als Verkörperung des Bösen, als Unmenschen, dem jedes Verbrechen zuzutrauen und zuzurechnen ist. Dieses Feindbild zu indoktrinieren war die erste Voraussetzung dafür, daß die Bevölkerung die Anwendung militärischer Gewalt, die Restitution des Krieges als Mittel der Politik akzeptierte.

Als Fazit aus dem Vergleich der gegenwärtigen Friedens- und Sicherheitsordnung mit der vorangegangenen ergibt sich:

Bei allen Veränderungen, die seither in der globalen Sicherheitslage eingetreten sind, handelt es sich nicht um solche, die spezifisch sind für die Substanz einer Politik in Form des Kalten Krieges. Alle Wesenszüge, die bestimmend sind für die Qualität, die Frieden und Sicherheit im Kalten Krieg des vergangenen Jahrhunderts angenommen hatten, prägen auch den Frieden und die Sicherheit in der Weltordnung am Anfang des neuen Jahrhunderts.

Es ist zwar der Kalte Krieg zwischen zwei gegensätzlichen Eigentumssystemen zu Ende, aber die Politik des Kalten Krieges wird auch in der neuen Konstellation der internationalen Sicherheit fortgesetzt. Der Kalte Krieg des 20. Jahrhunderts erweist sich als eine besondere, historisch konkrete Form von Kaltem Krieg. Die internationale Politik bedient sich weiterhin der Formen und Methoden sowie der Instrumente, wie sie charakteristisch sind für eine Politik nach Art des Kalten Krieges. Sie erzeugt einen neuen Kalten Krieg in einer anderen historisch-konkreten Form. Um ihn vom alten Kalten Krieg zu unterscheiden, könnte dieser entweder den Namen "neuer" oder "zweiter Kalter Krieg" erhalten.

Zehn Jahre danach erleben wir also den Rückfall in ein sicherheitspolitisches Denken und Verhalten, das damals als überholt galt und das in gemeinsamer Verabredung der KSZE-Staaten durch ein zeitgemäßes und zivilisiertes ersetzt werden sollte. Das befreiende Ende des Kalten Krieges zweier Welten ist zum bedrückenden Anfang eines neuen Kalten Krieges geraten. Wie der alte, so entwickelt auch der neue Kalte Krieg seine eigene Logik, militarisiert das politische Denken und zieht die Öffentlichkeit in den Bann dieser Denkweise, erzeugt militärische Funktionen und Sicherheitsstrukturen und verfestigt sie. Er ordnet sich den Umgang mit Völkerrecht und Menschenrechten unter und springt mit Freiheit und Demokratie nach seinen Bedürfnissen um. Wir kennen das alles aus der Erfahrung, und wir wissen um die Unwägbarkeiten und tödlichen Gefahren.

Die Alternative: Globale gemeinsame Sicherheit

In bezug auf die Auseinandersetzung zwischen den USA und den anderen Großmächten um geostrategische Interessen rief "Die Zeit" den Lesern mit einem Titel zu: "Willkommen im Kalten Krieg".(3) Der makabre Willkommensgruß sollte die Öffentlichkeit aus dem Schlaf der Vernunft und zum Widerstand erwecken. Noch stehen wir am Anfang eines Weges, der ins Verhängnis führt und noch wäre Umkehr möglich. Wir brauchen uns nur in Erinnerung zu rufen, daß die Militarisierung der Konflikte, das Wettrüsten, die militärische Abschreckung mit den untragbaren Folgen ihres möglichen Versagens in die Sackgasse geführt haben. Warum sollte es diesmal anders sein? Folgt die Sicherheitspolitik wieder dieser Logik, so wird die Perspektive des neuen Kalten Krieges prinzipiell die gleiche sein.

Die Militarisierung der Konflikte in der neuen Weltordnung, die Ausprägung der Sicherheitsordnung in Formen eines Kalten Krieges, wird zwangsläufig in dasselbe Dilemma geraten wie seinerzeit die Militarisierung des Ost-West-Konflikts. Es gibt nur die Alternative: Entweder erleiden wir eine neue Periode unsicheren Friedens, militärischer Gewaltakte, begrenzter Kriege und der Gefahr des atomaren Menschheitstodes, oder es gelingt die Abkehr von einer Sicherheitspolitik mit den Methoden und Instrumenten des Kalten Krieges.

Ausgehend von den USA wird mit der Politik der militärischen Stärke ein Wettrüsten in Gang gesetzt, diesmal zwischen mehr als zwei Großmächten, das uns in dieselben Gefahren stürzt, denen wir gerade glücklich entronnen sind. Sind aber die Gefahren für den Frieden wesentlich die alten wie zur Zeit des ersten Kalten Krieges, dann sind prinzipiell auch die Ideen und alternativen sicherheitspolitischen Konzepte, die schlüssig den Ausweg aus den Gefahren des Kalten Krieges zeigten, nach wie vor gültig. Der seinerzeit gefundene Ausweg aus der Gefahr war die Umkehr zu einem prinzipiell anderen System internationaler Sicherheit.

Das grundsätzlich Neue dieses Systems war die Idee der gemeinsamen Sicherheit. Im Ost-West-Dialog von der Palme-Kommission gefunden, wurde sie 1982 von Egon Bahr auf den Begriff gebracht. Angesichts der "möglichen Zerstörung der Menschheit", so forderte er, müssen "wir in unserem Denken einen entsprechend großen Sprung machen, den Sprung zum Denken der gemeinsamen Sicherheit. Es gibt nicht mehr Sicherheit gegen den möglichen Feind, sondern es gibt Sicherheit nur noch mit ihm zusammen."(4) "Gemeinsames Überleben verlangt die Einsicht, daß es nur gemeinsame Sicherheit gibt", setzte er an anderer Stelle hinzu und formuliert dies als oberstes Gesetz des nuklearen Zeitalters: "Die Gegner wären im Untergang vereint; sie können nur gemeinsam überleben. Dies ist das oberste Gesetz des nuklearen Zeitalters." (5)

Dieses Gesetz gilt weiterhin, denn wir leben noch immer im nuklearen Zeitalter. Trotz der gegenüber dem alten Kalten Krieg eingetretenen Veränderungen sind all die Grundkonstanten der Sicherheitslage weiterhin gegeben, die damals als Ausweg aus der Gefahr ein neues Konzept für Frieden und Sicherheit notwendig machten. Das gilt in erster Linie für die Gefahr des Menschheitsgenozids durch die alles vernichtenden Waffen und für die inzwischen nur noch gesteigerte Kriegsunverträglichkeit der modernen Hochtechnologie-Zivilisation.

Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit war die Alternative zur Politik des Kalten Krieges, der den Gattungsgenozid heraufbeschwört. Es beruht auf dem Verstehen der unabwendbaren Tatsache, daß im Atom- und Hochtechnologiezeitalter ein übergeordnetes Interesse am gemeinsamen Überleben besteht, dem die gegensätzlichen Interessen untergeordnet werden müssen. Aus eben diesem Grunde können die Interessenkonflikte nicht mehr mit militärischer Gewalt ausgetragen werden, sondern nur noch mit den zivilen Mitteln der Politik, in Rechtsformen und über Rechtsinstitutionen.

Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Ulrich Albrecht gibt es grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten, auf die Gegensätze zwischen den reichen OECD-Staaten und dem großen Rest der Welt, aus denen sich die Gefährdungen der Sicherheit ergeben, zu reagieren. Die eine ist der Versuch, Kontrolle zu erlangen und aufrecht zu erhalten, notfalls mit militärischer Gewalt einschließlich nuklearer Eskalationsdominanz. Diese Vorgehensweise behebt nicht die Ursachen der Konflikte, bleibt zukunftslos und wird, so der Autor, nicht lange aufrecht erhalten werden können. Die andere Alternative - er nennt sie die blassere - ist eine Politik der Ursachenbeseitigung durch wirtschaftliche Entwicklung des Südens und eine andere Konzeption der Sicherheit: "In der Sicherheitspolitik ginge es in Fortführung der bislang auf Europa bezogenen Konzeption der ?common security?, Sicherheit miteinander und nicht voreinander, um ?common global security?."(6)

Praktiziert wird gegenwärtig die erste Variante, die sicherheitspolitische und militärische Vorherrschaft des Nordens. Im Widerstand gegen sie muß der zweiten, der derzeit blasseren Alternative, wieder Farbe gegeben werden. Die ursprünglich gegen den damaligen Kalten Krieg und für den KSZE-Rahmen entworfene Konzeption der gemeinsamen Sicherheit muß heute gegen einen neuen Kalten Krieg und für den globalen Rahmen weiter entwickelt werden. Heute wie damals kann nur gemeinsame Sicherheit die militärischen Sicherheitsstrukturen und -funktionen ersetzen, die durch Feindschaft und Bedrohung charakterisiert sind und jetzt durch den Militärinterventionismus verstärkt und aktiviert werden.

Die Idee der gemeinsamen Sicherheit muß den verlorenen Platz in der öffentlichen Meinung zurück gewinnen. Sie ist objektiv die einzige mögliche Grundidee für eine zukunftsfähige Sicherheitspolitik und globale Friedensordnung. Auch unter den Auspizien der neuen Weltlage gilt:

1. Die Einsicht in die Überlebensabhängigkeit aller Glieder der Weltgesellschaft von der Lösung der globalen Menschheitsprobleme bedingt die Priorität der Gattungsinteressen gegenüber den Gruppeninteressen und damit an erster Stelle den Verzicht auf militärische Gewalt. "Gewaltverzicht ist die Quelle friedlicher Transformation von Konflikten, und zwar deshalb, weil letztlich die Bereitschaft erforderlich ist, Haß zwischen den Kontrahenten abzubauen und durch Vernunft zu ersetzen", so transponiert Egon Bahr ausdrücklich seine gegen den alten Kalten Krieg gefundenen Ideen auf die heute notwendige Sicherheitspolitik. "Gewaltverzicht verlangt nicht, daß man sich lieben muß oder daß unterschiedliche, gegeneinander gerichtete Überzeugungen und Absichten konvergieren müssen."(7) Er wendet sich entschieden gegen die Forderung, Sicherheit von Wertkonvergenz abhängig zu machen.

2. An die Stelle von Feindschaft und Feindbildern muß das nüchterne Kalkül gemeinsamer und gegensätzlicher Interessen treten, die Bereitschaft zum Interessenausgleich und zum Respektieren der legitimen Sicherheitsinteressen aller. "Staaten müssen in den geregelten Gewaltverzicht einbezogen werden, unabhängig davon, ob sie mehr oder weniger demokratisch und marktwirtschaftlich organisiert sind. Die Sicherheit muß wieder unteilbar werden, wie das während der Konfrontation zwischen Ost und West schon erreicht worden war. Auch ohne die disziplinierenden Klammern der Blöcke muß ein Ordnungssystem entwickelt werden, das die unteilbare Sicherheit für alle Staaten schafft - nun ergänzt durch die bislang entbehrten Freiheiten der Völker, aber garantiert durch organisierten Gewaltverzicht."(8)

3. Militärische Abschreckung und Bedrohung müssen ersetzt werden durch kontrollierte Abrüstung mit den erstrangigen Zielen der Abschaffung der Atomwaffen und dem Erreichen der Angriffsunfähigkeit, durch Transparenz, Vertrauensbildung und Kooperation auf militärischem Gebiet. "Die Politik der freien Hand, gestützt auf militärische Macht, will die Chancen der Globalisierung nutzen, aber nicht unbedingt Regeln gegen die Gefahren der Globalisierung beachten. Im Grunde ist die amerikanische Tendenz potentiell konfrontativ, also schwer vereinbar mit dem Sinn echter Partnerschaft und schwer kompatibel mit der Idee der gemeinsamen Sicherheit." (9)

4. Gemeinsame Sicherheit erfordert und ermöglicht schließlich den Abbau militärischer Sicherheitsstrukturen und den Umstieg auf zivile Sicherheitsstrukturen und Konfliktlösungsformen mit den Mitteln der Diplomatie und des Rechts im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme. "Die Philosophie des Gewaltverzichts will das Recht, das sich der Stärkere nimmt, durch die Stärke des Rechts ersetzen. Sie ist das Mittel der Emanzipation der Schwächeren gegenüber den Stärkeren."(10)

Die Ideen für ein alternatives Sicherheitskonzept sind also da, Erfahrungen sind gemacht, die erforderlichen Völkerrechtsakte und Rechtsinstitutionen in UNO und OSZE geschaffen. Was fehlt, ist der erforderliche politische Wille der maßgeblichen Staaten, sie aufzugreifen und zu nutzen, ihnen den Vorzug zu geben vor der Diplomatie mit Waffen und Soldaten und das Personal und die Mittel umzulenken von Kriegsertüchtigung auf Friedensfähigkeit.

Es wird besonders von zwei Faktoren abhängen, den Wandel zu der alternativen, nachhaltig friedensbewahrenden und zukunftsfähigen Sicherheitspolitik herbeizuführen. Erstens wird dafür entscheidend sein, daß die Mächtigen wie schon im alten Kalten Krieg die Erfahrung machen, daß militärische Gewalt vor den Problemen, die sie lösen soll, versagt. Zweitens wird Entscheidendes vom Widerstand derjenigen abhängen, die man mit militärischer Überlegenheit in den Zustand der Ohnmacht versetzen will. Vor allem auf die Art des Widerstandes kommt es an. Gegen die Politik der Stärke muß er die Stärke der Politik gemeinsamer Sicherheit zur Geltung bringen. Viel wird dabei abhängen vom Widerstand jener, die in der Festung der westlichen Welt den neuen Kalten Krieg mit ihrem Geld und mit ihrem Leben bezahlen sollen.

Offenbar steht weiteren Generationen ein langwieriges Ringen um die endgültige Entscheidung bevor, ob die menschliche Vernunft ausreicht für den Umstieg auf die globale gemeinsame Sicherheit oder ob die Gattung Mensch sich außerstande zeigt, sich den veränderten Lebensbedingungen im Atom- und Hochtechnologiezeitalter anzupassen, und ausstirbt.

Autor: Prof. Dr. Wolfgang Scheler,

Dresdener Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e.V.

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Quellen, Anmerkungen:

(1) Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, 21. November 1990. In: Deutsche Außenpolitik 1990/91. Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Eine Dokumentation, Bonn 1991, S. 265.

(2) Christian Schmidt-Häuer, Der Kalte Krieg ist noch lange nicht vorbei. In: Die Zeit (Hamburg) vom 1. März 1996, S. 3.

(3) Siehe Christian Schmidt-Häuer, Willkommen im Kalten Krieg. In: Die Zeit (Hamburg) vom 2. Dezember 1999, S. 10.

(4) Egon Bahr, Was wird aus den Deutschen? Fragen und Antworten, Reinbeck bei Hamburg 1982, S. 26.

(5) Egon Bahr, Rede aus Anlaß des 90. Geburtstages von Martin Niemöller in der Frankfurter Paulskirche am 16. Januar 1982. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1982, Heft 2, S. 251.

(6) Ulrich Albrecht, Intervention: Geschichte, das Souveränitätsproblem und die humanitäre Einmischung (unveröffentlichtes Manuskript).

(7) Egon Bahr, Die Ost- und Deutschlandpolitik als Fundament einer zukünftigen europäischen Friedensordnung. Vortrag, in: Die Ost- und Deutschlandpolitik. Vom Wandel durch Annäherung zu einer europäischen Friedenspolitik. Dokumentation, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berliner Büro, 1999, S. 129.

(8) Ebenda.

(9) Egon Bahr, Ein Protektorat wird selbständig, in: Die Zeit (Hamburg) vom 31. Mai 2000, S. 6.

(10) Egon Bahr, Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München 2000, S. 166 f.

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