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Nazi-Methoden auf dem Schulhof


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Der Fall entsetzt Deutschland: Drei Jugendliche schicken einen anderen mit einer Judenhass-Parole über den Schulhof. Ein Einzelfall, sagen die Verantwortlichen in der Region. Doch Jugendgewalt zwischen rechts und links ist in der Region Alltag, Neonazis rekrutieren Schüler in Scharen.

Von Jens Todt

Parey - Es müssen ebenso schreckliche wie bizarre Szenen gewesen sein, die sich gestern Morgen auf dem Schulhof der Sekundarschule in Parey abgespielt haben. Der 16-jährige Christopher F., vielen Schülern als Angehöriger der linken Szene bekannt, erscheint zum Unterricht - sieht aber völlig anders aus, als ihn die Mitschüler vom Vortag in Erinnerung haben.

Am Mittwoch trug der Jugendliche noch einen Irokesen-Haarschnitt und wurde von rechtsradikalen Mitschülern als "Zecke" verlacht. Doch tags darauf trägt er plötzlich Glatze, Stiefel, Bomberjacke. Christopher F. soll zu drei Schülern, die als Sympathisanten der rechten Szene gelten, gegangen sein und gesagt haben: Er könne ja ab sofort bei ihnen mitmachen.

Die drei sind Hendrik W., 15, Alexander S., und Enrico W., beide 16. Alle drei sind polizeibekannt wegen Körperverletzungsdelikten. Sie trauen dem nicht, was ihr Mitschüler da sagt. Sie beschließen, ihn zu demütigen. Öffentlich.

Kurze Zeit später steht Christopher F. mit einem DIN-A4-Zettel um den Hals auf dem Schulhof. Aufschrift: "Ich bin im Ort das größte Schwein, ich lass mich nur mit Juden ein."

"Wir kannten so etwas bisher nicht"

"Christopher wollte die nur ein bisschen provozieren. Der ist einer von uns", sagt später ein Jugendlicher, auf dessen Lederjacke der Schriftzug "Gegen Nazis" prangt. "Der würde nie bei denen mitmachen."

Ein Lehrer, der Pausenaufsicht hat, bemerkt am Donnerstagmorgen die Unruhe auf dem Schulhof. Er schreitet ein. Die Schulleitung verständigt die Polizei, die nun wegen Nötigung und möglicherweise auch wegen Volksverhetzung gegen die drei Jugendlichen ermittelt. "Zum Motiv der Tat können wir bisher noch nichts sagen", sagt Mike von Hoff, Sprecher der Polizeidirektion Stendal. "Die Beschuldigten haben sich zwar teils zur Sache eingelassen, aber die Befragungen laufen noch."

"Wir waren äußerst bestürzt und haben sofort reagiert", sagt Schulleiterin Anita Krüger. Die Pädagogin steht vor einer Tafel in einem Klassenraum der Schule und erklärt, dass alle Klassenlehrer angewiesen wurden, den Vorfall im Unterricht zum Thema zu machen. "Wir haben den Unterricht geändert und werden Maßnahmen ergreifen, sobald die Ermittlungen der Polizei abgeschlossen sind." Die Situation sei "völlig neu" an ihrer Schule. "Wir kannten so etwas bisher nicht."

Pareys Schüler wehren sich gegen Generalverdacht

Valentin Gramlich, Staatssekretär im Kultusministerium von Sachsen-Anhalt, spricht von einem "bedauerlichen und abstoßenden Vorgang." Allerdings handle es sich bei der Tat "um einen Einzelfall, der keine Rückschlüsse auf die Schullandschaft des Landes" zulasse.

Das sehen einige Schüler allerdings anders.

"Zoff zwischen Linken und Rechten ist hier doch völlig normal", sagt eine Schülerin. Auch am 7. September soll es eine Schlägerei auf dem Schulhof gegeben haben. Das Opfer damals wie heute: Christopher F. Er wurde von einem der Jugendlichen zusammengeschlagen, die ihm jetzt den Zettel mit der antisemitischen Parole umgehängt haben.

Dennoch wehren sich die Schüler gegen einen Generalverdacht. "Wir sind keine Nazi-Schule", sagt einer. Die Sekundarschule ist ein schlichter grauer Zweckbau aus den sechziger Jahren, sie hat einen Haupt- und einem Realschulzweig, Schüler aus der gesamten Region werden hier unterrichtet. Die Anfahrtswege sind lang, die Gegend ist dünn besiedelt - ein Schüler wartet jeden Morgen regelmäßig zwei Stunden vor der Schule auf den Unterricht: Er wohnt in einem Dorf mit schlechter Busanbindung.

Die Rechten rekrutieren Jugendliche "in Scharen"

Jutta Mannewitz, die Bürgermeisterin der Gemeinde, ist entsetzt. "Uns fehlen die Worte, dass so etwas hier passieren konnte. Wir nehmen das sehr ernst. Allerdings ist mir von einer rechten Szene im Ort nichts bekannt." Jugendarbeit werde hier "groß geschrieben", die 2000-Einwohner-Gemeinde leiste sich einen eigenen Jugendpfleger und einen Streetworker.

Die Zahlen und Polizeiberichte in der Region weisen allerdings in eine andere Richtung. Rechtsextreme Straftaten haben sich in jüngster Zeit in Sachsen-Anhalt gehäuft.

Auf einem Heimatfest in benachbarten Zerbst wurde kürzlich ein Jugendlicher mit einem "Gegen Nazis"-T-Shirt schwer verletzt. Ein Mitglied der rechten Kameradschaft "Weiße Staffel Jerichower Land" verwundete ihn mit einem Bierglas am rechten Auge. Jetzt ist er darauf blind.

Marco Steckel vom Antidiskriminierungsbüro in Sachsen-Anhalt bestätigt den Trend. Rechtsradikale Parteien und Gruppierungen "rekrutieren in Scharen" Jugendliche in der Region, sagt er. Und: "Die Täter sind immer jünger." Es gehe jetzt um Schüler von 14 bis 16 Jahren.

Die Schulen wissen nicht, wie ihnen geschieht

Die Schulen seien auf diesen rechten Ansturm nicht vorbereitet. Zumal die Rechtsextremen ihre Propaganda meist nicht offen zeigen: Ihre Codes und Symbole sind oft nur von Insidern zu entschlüsseln. "Die Lehrer wissen kaum etwas über die rechtsextreme Szene", sagt Steckel.

Eine Studie der Universität Halle-Wittenberg bestätigt, dass der Rechtsradikalismus an den Schulen erstarkt: Rund fünf Prozent der Schüler in Sachsen-Anhalt seien dem Kern der rechten Szene zuzurechnen. Heinz-Hermann Krüger, Leiter der Studie, sieht das rechte Potential bei Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt bei zehn Prozent.

Die Zahlen liegen sogar noch höher, wenn man nach fremdenfeindlicher Orientierung fragt. Krüger schätzt, dass 40 Prozent der Schüler an Sekundarschulen fremdenfeindlich sind.

"Damals war nicht alles schlecht"

Offene Bekenntnisse zu Nazi-Gedankengut sind dagegen nicht die Regel - auch nicht in der Region Jerichower Land, die von hoher Arbeitslosigkeit gebeutelt ist. Doch viele Menschen fühlen sich jedoch von der Politik im Stich gelassen; die Landstriche haben wenig zu bieten; die jungen Leistungsträger ziehen längst den Arbeitsplätzen hinterher.

Neonazis sind in diesen verödenden ländlichen Gebieten des Ostens nicht grundsätzlich geächtet und verachtet. Sie werden oft bloß als eine weitere politische Möglichkeit gesehen - selbst die gesellschaftliche Mitte sympathisiert gelegentlich mit bestimmten Positionen der Rechtsradikalen. Der Vater eines der beschuldigten Jugendlichen steht in der Hofeinfahrt seines Hauses in einem Dorf nahe Parey und will nicht glauben, dass sein Sohn rechtes Gedankengut verherrlicht. "Der macht so etwas nicht, ich habe mit ihm über die Nazizeit geredet", sagt der Mann. "Ich habe ihm erklärt, was damals passiert ist."

Dann wendet er sich zum Gehen, hält inne und sagt: "Aber unsere Regierung ist doch auch nicht besser. Damals war nicht alles schlecht. Dazu stehe ich."

Mitarbeit: Tobias Betz

© SPIEGEL ONLINE

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