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Von der Freiheit, schießen zu dürfen


357.mag

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Erstmals seit 70 Jahren befasst sich das Oberste Gericht der USA mit der Frage, ob das Recht auf Waffenbesitz eingeschränkt werden darf

In der Nacht des 4. Februar 1997 erwachte Adrian Plesha in seinem Haus nahe Capitol Hill in Washington von Geräuschen im Obergeschoss. Er lief in den Hof und sah einen Mann aus dem Fenster steigen. Plesha befahl ihm, stehen zu bleiben, und zog seine Sig Sauer 9 Millimeter. Gregory Jones, der Einbrecher, versuchte zu fliehen. Drei Schüsse trafen ihn in den Rücken. Jones überlebte. Plesha, der auf Notwehr plädiert hatte, wurde wegen des in Washington illegalen Besitzes einer Pistole verurteilt; er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Wie das Täteropfer Jones, der 120 Tage Sozialdienst leistete. Niemand konnte ahnen, dass Plesha und Jones eine Neuinterpretierung des Verfassungsrechts auf Besitz und Tragen einer Waffe durch den Supreme Court anstoßen würden.

Als die neun Obersten Richter gestern den Fall "District of Columbia gegen Heller" hörten (in dem sie wohl im Juni das Urteil fällen), zum ersten Mal seit 1939 den Zweiten Verfassungszusatz prüften und so das Für und Wider des Verbots von Handfeuerwaffen in der Hauptstadt abwägten, hatte das eine Menge mit dem heiligen Zorn von Dick Heller zu tun. Der Wachmann, der auf der anderen Seite von Capitol Hill lebte, regte sich darüber auf, dass Plesha sich nach dem Waffengesetz des Distrikts in Selbstverteidigung strafbar gemacht hatte. Seit 1976 gilt dort, dass nur Polizisten, Beamte des Secret Service und Wachmänner registrierte Handfeuerwaffen besitzen und tragen dürfen. Das strikte Waffengesetz regelt den Hausgebrauch. Alle Waffen, etwa Jagdgewehre und Schrotflinten, müssen entladen, zerlegt und mit Abzugsschlössern gesichert aufbewahrt werden. Im Notfall, so wurde gespottet, könne man sein Gewehr nur als Baseballschläger einsetzen.

Das Gesetz hatte den Vorzug, dass Washington eine der rühmenswerten US-Großstädte war, in denen Eltern sich vor einem Kindergeburtstag nicht bei den Gastgebern erkundigen mussten, ob sie Schusswaffen besitzen und ob und wie sie gesichert sind. Es gingen nach 1976 Gewaltverbrechen mit Schusswaffen in der einst berüchtigten "Murder Capital USA" zurück. Für Dick Heller wurde die Situation unerträglich. Er erklärte im Februar 2003 mit fünf Gleichgesinnten dem Distrikt den Krieg per Anwalt. Er beantragte einen Waffenschein für eine Pistole, wurde natürlich abgewiesen, in seinem Recht auf freie Waffenausübung verletzt, und klagte. "District of Columbia v. Heller" schlich durch die Instanzen. Im März 2007 gab ein Bundesberufungsgericht Dick Heller recht. Washington war schockiert. Heute zählen zu seinen Waffenbrüdern vor dem Supreme Court Vizepräsident Dick Cheney, 55 Senatoren, 250 Kongressabgeordnete, die Regierungen von 31 Bundesstaaten und Amerikas Schützenbund National Rifle Association (NRA).

Auf der Gegenseite stehen der District of Columbia, Kinderärzte und Jugendschutzgruppen, fünf Bundesstaaten und namhafte Polizeichefs von US-Metropolen. Sie teilen die Rechtsauffassung, dass der zweite Verfassungszusatz nur bewaffnete Kollektive garantiert: "Eine wohlregulierte Miliz, notwendig für die Sicherheit eines freien Staates, das Recht des Volkes zum Besitz und Tragen von Waffen, soll nicht verletzt werden." Der Streit über diesen verrenkten Satz wird mit der Verbissenheit ausgetragen, die man in Deutschland von Kampfhundehaltern kennt. Er entzündet sich an der Frage, ob die Verfassungsväter vor über 200 Jahren ein individuelles oder kollektives Recht im Sinne hatten. Niemand bestreitet das Recht der Nationalgarden, Erben der Milizen, ihren Bundesstaat zu verteidigen und (etwa im Irak) zu vertreten. Und niemand bestreitet ihr Recht, den Waffengebrauch zu regulieren. Über die freie Aufrüstung freier Bürger wird entschlossen gestritten.

Robert Levy, einer der Anwälte Dick Hellers, beharrt darauf, dass es ja nicht darum gehe, auf den Straßen der Hauptstadt den Westernhelden zu spielen, sondern sich in seinem Haus schützen zu können. "Killer werden nicht von Gesetzen gegen Mord abgeschreckt und auch nicht von Gesetzen gegen Waffen." Washingtons Stadtregierung sei nicht besonders effektiv, Kriminellen ihre Waffen zu entwinden - 2006 wurden 2655 Feuerwaffen in der Stadt sichergestellt, sie waren bei 80 Prozent der Gewaltverbrechen im Spiel; seit 2000 starben 1200 Menschen, 70 davon Kinder, durch Schüsse. Aber die Regierung habe es "superb verstanden, anständige, friedliche Menschen zu entwaffnen". Wenn in ihre Häuser eingebrochen werde, könnten die Bürger, so Levy, nur den Notruf wählen und beten.

Gefährlichen Unsinn nennt das die Gegenseite. Jeder Kenner wisse, dass Pistolen und Revolver selbst in den Händen geübter Schützen in Notwehr höchst unsichere Waffen seien. Die Polizeichefs von Los Angeles, Minneapolis und Seattle bestätigen dies in einer Stellungnahme für den Supreme Court. Ein Schrotgewehr tauge besser zur Abschreckung eines Einbrechers. Dagegen verwahren sich wiederum 126 weibliche Abgeordnete und Professorinnen. Frauen hätten weder die Körperkraft, um sich ohne Waffen zu wehren, noch könnten sie leicht Gewehre handhaben. Es komme sexistischer Benachteiligung gleich, wenn man Frauen die Verteidigung ihrer selbst und ihrer Kinder mit Handfeuerwaffen verbiete.

Das American Jewish Committee argumentiert zusammen mit der Anti-Defamation League und zwei Dutzend weiteren religiösen und Bürgerrechtsverbänden in einem Papier für den Supreme Court gegen ein Individualrecht; die Gruppe Jews for the Preservation of Firearms Ownership erkennt im freien Waffenbesitz das Notwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. Zu viele Völker seien von ihren eigenen Regierungen ermordet worden, nachdem sie entwaffnet worden waren. Amerikas Verfassungsrichter sind nicht zu beneiden. Der Streit über die Auslegung des "Second Amendment" trennt Familien, Eheleute, Präsidentschaftskandidaten. McCain ist "pro gun", wie es sich für seine Klientel gehört. Clinton und Obama sprechen, um niemanden zu verprellen, von sorgfältig abgewogenen Beschränkungen. Am liebsten sprechen sie nicht darüber.

http://www.welt.de

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