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Unsere Angst vor Hampelmännern


CityCobra

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Verglichen mit Nazideutschland oder der Sowjetunion, sind die heutigen Feinde des Westens ziemlich schwach. Doch gerade deshalb sind sie gefährlich

Fasst man die gegenwärtigen Feinde des freien Westens als Gruppe ins Auge, dann fällt vor allem ein gemeinsames Merkmal auf: ihre Schwäche. Beginnen wir aus aktuellen Gründen bei Russland. Die russische Armee hat also gerade eben bewiesen, dass sie es mit der ganzen georgischen Armee aufnehmen kann. Herzlichen Glückwunsch aber auch! Von diesem glänzenden militärischen Sieg abgesehen, befindet sich die russische Gesellschaft freilich im freien Fall. Die Geburtenrate ist dermaßen niedrig, dass sie sogar noch unter derjenigen Westeuropas liegt. Quasi zum Ausgleich sterben die Leute in Russland sehr früh (im Durchschnitt mit 56 Jahren, jedenfalls die Männer). Eine Aids-Welle rauscht über die Russische Föderation hinweg, der Alkoholismus grassiert, gleichzeitig kehrt die Tuberkulose massiv zurück. Sibirien gehört schon jetzt nur noch de jure zu Russland. Praktisch ist es im Besitz seiner Ureinwohner, die dort regelmäßig Besuch bekommen: Ganze Trupps von Chinesen gehen hoch im Norden auf Bärenjagd. Wie ergeht es unterdessen der "Islamischen Republik Iran"? Nicht besonders. Sie hat zwischen 60 und 70 Millionen Einwohner - also beinahe so viele wie Deutschland -, aber sie benötigt ein ganzes Jahr, um das zu produzieren, was Deutschland innerhalb eines Monats schafft. Ohne Erdöl und Erdgas wäre der Iran ein völlig uninteressantes Entwicklungsland. Bitte: Was ist dort in jüngster Zeit erfunden, erdacht, patentiert worden? Auch die Armee soll sich in einem kläglichen Zustand befinden. Das Einzige, was auf Hochtouren brummt, sind jene 6000 Zentrifugen, mit denen Tag und Nacht Uran für die Bombe angereichert wird. Allerdings könnte es sein, dass diese Zahl 6000 - wie so vieles im Nahen Osten - auf purer Angeberei beruht. Und Syrien, der strategische Partner des Regimes in Teheran, ist im Grunde bankrott. Wenn es den Libanon nicht gäbe, den Syrien melkt wie eine Milchkuh, ginge dieses Land am Bettelstab. Was nun den Waffenschmied unter den Schurkenstaaten betrifft, also Nordkorea, so ist die Sache grauenhaft klar: Es handelt sich um ein Hunger-KZ, dessen Führung darauf angewiesen ist, in regelmäßigen Abständen den Rest der Welt zu erpressen, damit die eigene Bevölkerung nicht vollends ins Gras beißen muss. Der Raketentest, den Nordkorea vor einiger Zeit durchführte, ging grandios in die Hose - die militärische Entsprechung einer erektilen Dysfunktion.

Kein wesentlich anderes Bild ergibt sich, wenn wir uns den Juniorpartnern unter den Bösewichtern zuwenden. Al-Qaida ist heute vor allem ein Firmenname, der im Internet kursiert. Der Rest der originalen Terrortruppe hat sich in Pakistan eingenistet und hängt ganz von der Gnade des dortigen Geheimdienstes ab. Die Hamas konnte sich zwar im Gazastreifen festsetzen und würde ohne Zweifel auch das Westjordanland übernehmen, wenn sich die israelische Armee von dort zurückzöge - aber nach diesem Sieg würde die Hamas wahrscheinlich in eine Vielzahl von Clans und Grüppchen zerfallen, die einander bis aufs Messer bekämpfen. Vergleichen wir das einmal mit früheren Feinden der liberalen Zivilisation. Nazideutschland war eine echte, nicht nur eingebildete Macht: ein wirtschaftlich potenter Staat im Zentrum Europas, der starke Verbündete in der Alten Welt und in Asien hatte. Die deutsche Wehrmacht gehört zu den effizientesten militärischen Tötungsmaschinen, die unser geplagter Planet je gesehen hat. Mit ihr verglichen, waren die Horden von Attila, dem Hunnenkönig, ein freundlicher Pferdezüchterverein. Stalins Sowjetunion verfügte über Abermillionen von Soldaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über ganz Osteuropa verteilt waren. Das maoistische China war ein totalitärer Atomstaat, und noch bevor es nach der absoluten Waffe griff, wäre es den Chinesen um ein Haar gelungen, die Amerikaner auf der koreanischen Halbinsel in die Flucht zu schlagen.

Die heutigen Schurkenstaaten sind dagegen eine eher lächerliche Truppe. Es ist, als wären wir mit einer Bande von Piraten konfrontiert, die zwar (wie es sich gehört) die Totenkopfflagge hissen und "Kapert sie!" brüllen - aber der Käpt'n mit dem Eisenhaken am Armstumpf wird vom Maat im Rollstuhl geschoben, der Bootsmann trägt den Knopf eines Hörgeräts im Ohr, und der Erste Offizier, der finster seine Zähne fletscht, braucht einen Blindenhund. Soll das heißen, dass unsere Sorgen übertrieben sind, dass die Lage nicht ernst ist, dass es weniger Möglichkeiten zur Katastrophe gibt als 1939 oder nach den ersten sowjetischen Atomversuchen?

Ich fürchte, das heißt es ganz und gar nicht. Ich glaube sogar, dass die Situation heute gefährlicher ist, als sie es damals war. Dies hat im Wesentlichen drei Gründe. Erstens ist die Lage heute sehr viel verworrener als in der Nazizeit oder im Kalten Krieg. Ende der Dreißigerjahre war immerhin eindeutig, was auf der Tagesordnung stand: Es galt, den Nationalsozialismus zu besiegen, koste es, was es wolle - auch wenn das hieß, dass man sich mit dem leibhaftigen Stalin persönlich verbündete. (Allerdings musste man wohl Winston Churchill heißen, um das in dieser Deutlichkeit zu sehen.) Nachdem der Krieg gegen Hitler gewonnen war, musste die sowjetische Expansion gestoppt werden, was unter anderem bedeutete, den kommunistischen Vormarsch in Korea zu stoppen und Westberlin nicht preiszugeben. Aber heute?

Die größte Gefahr, darin stimmen die meisten Experten überein, wäre der Aufstieg der "Islamischen Republik Iran" zur Nuklearmacht. Angenommen, es gelänge, dies zu verhindern - übrigens weiß keiner genau, wie man das anstellen soll -, was stünde denn danach auf der Tagesordnung? Pakistan, das ein wirklicher Hort der Finsternis ist? Saudi-Arabien? Was passiert, wenn Putin und seine alten KGB-Kameraden endgültig durchdrehen? Oder wenn China beschließt, Taiwan heim ins Reich der Mitte zu holen? Wir rüsten uns gegen die heiße Gefahr, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Leider hat das zur Folge, dass wir komplett aus den Augen verlieren, was uns dann kalt von hinten erwischt.

Zweitens sind die Fronten weniger klar geschieden, als sie es im Kampf gegen den Nationalsozialismus oder im Kalten Krieg waren. Wer in den Dreißigerjahren im Westen lebte und für die Achsenmächte Partei ergriff, war ein Faschist - ganz einfach. Wer im Kalten Krieg für Stalins Friedenspolitik warb, war entweder ein Agent des KGB, oder er gehörte zu jenen "nützlichen Idioten", von denen der unvergessliche Lenin sprach. Doch galt es nicht als normal, mit dem Feind verbündet zu sein. Undenkbar wäre etwa gewesen, dass britische oder amerikanische Firmen mit dem kaiserlichen Japan und mit Hitlerdeutschland gemütlich Geschäfte machen oder dass der Sowjetunion nach 1945 rüstungsrelevante Güter geliefert werden.

Das ist heute anders, vor allem wenn man nach Deutschland schaut. Dass es in Berlin eine knallharte Russland-Lobby gibt, dürfte bekannt sein (auch ein ehemaliger Bundeskanzler gehört ihr an). Noch heftiger ist allerdings die wirtschaftliche Verstrickung mit der "Islamischen Republik". Von einem Boykott kann in Wahrheit keine Rede sein: Das Handelsvolumen Deutschlands mit dem Iran ist 2008 noch einmal kräftig gewachsen (um 40 Prozent, wenn man genau sein will). Würde es jemanden wundern, wenn sich am Ende herausstellte, dass Teile des iranischen Atomwaffenprogramms made in Germany waren? Mich nicht.

"Appeasement" ist kaum das richtige Wort dafür, denn Neville Chamberlain und sein Kabinett verhandelten in den Dreißigerjahren aus einer Position der Schwäche heraus: Die britische Armee hätte es zur Zeit des Münchener Abkommens kaum mit der deutschen Wehrmacht aufnehmen können. (Und die amerikanische Armee war damals kleiner als die Streitkräfte der Niederlande.) Deutschland hingegen befände sich gegenüber dem Iran, wenn es nur wollte, in einer Position der Stärke: Es könnte die "Islamische Republik" leicht ökonomisch in die Knie zwingen.

Mit anderen Worten: Das Besondere unserer Situation besteht darin, dass die lachhaften Hampelmänner, die uns bedrohen - heißen sie nun Wladimir Putin, Mahmud Ahmadinedschad, Kim Jong-il oder Hugo Chávez -, vor allem deshalb so überlebensgroß aussehen, weil sie aus dem Westen heraus Anerkennung und Unterstützung erfahren. Über den dritten Unterschied zwischen damals und heute ist schwer zu schreiben, ohne in abgeschmackte kulturkonservative Rhetorik zu verfallen. Aber es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass wir im Westen - mit Herfried Münkler zu sprechen - in "postheroischen Gesellschaften" leben. Der Heldentod fürs Vaterland, das Aufziehen der Nationalflagge, das Schmettern patriotischer Hymnen: All dies gilt längst nicht mehr als cool. Die Zeiten, wo ein Winston Churchill Ansprachen über "blood, sweat, toil and tears" halten konnte, ohne Lachstürme hervorzurufen, sind unwiederbringlich passé. Übrigens gilt das natürlich längst auch für Amerika und Israel. Aber im Falle Westeuropas kommt ein besonderer Ennui, ein ganz spezieller Lebensüberdruss dazu.

Den Beobachter beschleicht gelegentlich das Gefühl, dass im europäischen (vor allem aber im deutschen) kulturellen Leben längst die Langeweile um sich selbst kreist. Alles, was die Kultur des Westens einst ausgezeichnet hat - Neugier, Witz, handwerkliches Können -, wird geradezu wütend abgelehnt. Zurück bleibt fade Melancholie.

Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese kulturelle Leere, dieses Vakuum, das im Zentrum Europas klafft, schon beinahe verzweifelt nach etwas sucht, wovor es kapitulieren kann. Man will die Waffen strecken, die man gar nicht hat. Deshalb kann jeder kleine Tyrann und islamische Schlagetot damit rechnen, dass er im Westen Europas sowohl klammheimliche als auch offene Bewunderer finden wird. Im Grunde handelt es sich um eine Anbetung der Gewalt, um die Verwechslung von Brutalität mit Größe. Und letztlich ist wohl doch "Dekadenz" das Wort, das dieses Phänomen am besten trifft. Bertolt Brecht tippte einst einen monumentalen Vierzeiler auf dünnes Durchschlagpapier.

http://www.welt.de

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