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Vom Steuerfahnder zum Zigarettenschmuggler


Nasenbär

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HANDELSBLATT, Donnerstag, 03. November 2005, 12:12 Uhr

Was bringt einen leitenden Steuerfahnder dazu, die Seiten zu wechseln? Das Psychogramm eines Karriere-Juristen aus dem Saarland, der zum Zigarettenschmuggler wird und den Fiskus um insgesamt 1,44 Millionen Euro prellt. Ein Handelsblatt-Report.

Containerweise soll Müller Zigaretten in die EU geschmuggelt haben. Foto: dpa

HB SAARBRÜCKEN. Den 8. März 2005 wird Erich Müller, 60, nicht so schnell vergessen. Als der große, grauhaarige Mann mit Brille die Abflughalle des Flughafens in Eindhoven betritt und auf den Schalter der Ryanair zusteuert, schlagen die Ermittler zu. Die holländische Polizei hat einen Tipp bekommen, mehrere Zivilfahnder stürzen sich beim Einchecken auf ihn. Müller wird noch einmal laut, arrogant, wie früher. Aber das Ende seiner monatelangen Flucht ist besiegelt: Boeing 737, Flugnummer FR 9124 ins spanische Girona, hebt ohne Erich Müller ab.

Erich Müller? Da war doch was. Vor allem die Menschen im Saarland kennen den Namen gut. Einst jagte er selbst Verbrecher – als Chef der saarländischen Steuerfahndung. An diesem 8. März aber haben ihn nun quasi seine Ex-Kollegen festgesetzt. Müller wird mit internationalem Haftbefehl gesucht – wegen Steuerhinterziehung und Zigarettenschmuggel im großen Stil.

Ab Freitag wird dem früheren Karriere-Juristen vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Saarbrücken der Prozess gemacht. Seither rätseln nicht nur Kriminologen: Was bringt einen Mann des Rechts dazu, die Seiten zu wechseln?

Wer Antworten sucht, der sucht sie zuallererst im Saarbrücker Lerchesflurweg 37. Dort, auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt, thront ein mächtiger grau-gelber Gebäudekomplex. Es ist ein Ort der ungestillten Sehnsüchte. „Wolle, I miss you“, hat jemand in krummen Buchstaben auf die riesige Mauer gesprüht, die den Kastenbau fast vollständig von der Außenwelt abschirmt. Die Einheimischen haben diese Festung mit feinem Sinn für Ironie „Hotel Gitterblick“ getauft. Hier, in der Justizvollzugsanstalt Lerchesflur, sitzt Erich Müller mittlerweile in einer Einzelzelle und wartet auf seinen Prozess. Kurz nach seiner Auslieferung hat er ein Geständnis abgelegt, das ein erhebliches Maß an krimineller Energie offenbart: Innerhalb von einem Jahr, von 2002 bis 2003, haben er und seine Komplizen aus Osteuropa 21 Millionen Zigaretten unverzollt in die EU transportiert. Der Schaden für den Fiskus beläuft sich auf 1,44 Millionen Euro.

Zu den Motiven für seinen Seitenwechsel schweigt Müller indes hartnäckig. „Interviews“, lässt er über seinen Verteidiger Manfred Seiler verbreiten, „will er nicht geben.“ Wie sich die Zeiten doch ändern. Früher war Müller einer, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit genoss, sich in ihr sonnte.

Das Saarland, Anfang der 80er-Jahre. Wer die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Juristen Erich Müller verstehen will, muss hierhin zurück. Es ist die Zeit einer starken SPD, die Zeit von Oskar Lafontaine. In seinem Dunstkreis macht zugleich ein hoffnungsvoller Genosse Karriere. Sein Spitzname: „Emü“.

Die wenigen Fotos zeigen einen Mann im dunklen Anzug. Die Krawatte ist schmal, die getönte Hornbrille riesig, so war die Mode damals. Da ist „Emü“, wie Erich Müller genannt wird, Anfang vierzig. Er steht bereits an der Spitze der Steuerfahndung. Als die Sozialdemokraten 1985 die Wahlen im Land gewinnen, steigt er zum persönlichen Referenten des damaligen Finanzministers Hans Kasper auf. Im Ministerium nennt man ihn schnell nur noch „die graue Eminenz“.

„Ja, unsere graue Eminenz“, sagt Raimund Weyand und lacht. Der Oberstaatsanwalt, ein Mittvierziger mit dunklem Zweireiher, aber hellem Timbre, war einst einer von Müllers Untergebenen in der Finanzverwaltung – bis der ihm in die Justiz verhalf. „Von Aussehen und Art her ist Müller ein Zwilling von Harald Schmidt“, sagt Weyand. Er selbst ist auch einer, der gern Späße macht. Etwa darüber, dass er den früheren Chef jetzt anklagen wird. „Man könnte sagen“, witzelt Weyand, „dass er sich seinen Verfolger selbst eingebrockt hat.“

Ratlos schaut er allerdings, wenn er den Wandel seines Ex-Bosses erklären soll. Müller sei ein hochintelligenter Mensch, sagt Weyand mit ungespielter Anerkennung. Aber eben auch einer, der stets zur Selbstüberschätzung neige. Hochmut, ja so könne man das wohl sagen, komme bekanntlich vor dem Fall.

Aber reicht das aus, um den Abstieg eines erfolgreichen Juristen in die Niederungen der Unterwelt zu erklären? Fragt man Kriminologen, antworten die gern mit Gegenfragen. Gab es einen „turning point“, eine Situation im Leben von Erich Müller, wo seine Welt aus der Balance geriet?

Zurück ins Saarland, Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Wie die meisten grauen Eminenzen bewegt sich Müller zu dieser Zeit längst auf dem schmalen Grat zwischen Durchsetzungsstärke und Machtmissbrauch. Damals, so heißt es, habe er ihn überschritten. Müller, der sich selbst als „Putzlappen und Chefberater zugleich“ beschreibt, soll in seinen Diensträumen Parteispenden angenommen haben. Und es kommt noch dicker. Zugleich wird bekannt, dass die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt: 1987 soll er ein Finanzamt angewiesen haben, einen bekannten Edelsteinhändler steuerlich zu verschonen.

Vor Gericht glaubt sich Müller unantastbar, verweist auf die Anweisungen seines Finanzministers. Doch erstmals überschätzt er sich. 1995 erhält er sechs Monate Haft auf Bewährung. Noch vor seiner Verurteilung verlässt er, wohl auch unter Druck, das Ministerium.

Macht, das muss Müller nun erfahren, ist nur geliehen. Schon während des Prozesses haben sich die Genossen von ihm fern gehalten. Als er ein Jahr später wegen krummer Immobiliengeschäfte erneut vor den Kadi muss, lassen sie ihn ganz fallen. Es heißt, er sei mittlerweile Pleite, brauche dringend Geld. Als er aber in den Anwaltsberuf einsteigen will, widerruft ausgerechnet der damalige SPD-Justizminister Arno Walter seine Zulassung.

Der „turning point“? Christian Pfeiffer kennt das Phänomen des Seitenwechsels. Der Jurist und Sozialpsychologe war bis 2003 unter Sigmar Gabriel Justizminister in Niedersachsen. Jetzt widmet er sich wieder ganz seinem Job als Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Geldgier, sagt Pfeiffer, sei sicher ein Motiv für den Seitenwechsel. Aber mindestens genauso wichtig sei der Wunsch, aktiv zu bleiben. „Wer sich aus dem Job gemobbt fühlt, der empfindet sich oft in einer Opferrolle“, glaubt der Kriminologe. Finde der Betroffene dann kein Betätigungsfeld mehr, gerate er in eine Midlife-Krise, aus der er verzweifelt einen Ausweg suche – und sei es im illegalen Umfeld.

Das Saarland, Anfang 2002. Was das legale Leben nicht mehr für ihn bereithält und die Genossen ihm verwehren, holt sich Müller nun woanders. Laut Staatsanwaltschaft knüpft er über die litauische Frau eines Freundes Kontakte zur osteuropäischen Zigaretten-Mafia. Er wechselt die Fronten, nicht das Fach: Müller sorgt dafür, dass die Schmuggel-Touren unbehelligt die Grenzen passieren. Wie früher arbeitet er sich auch hier schnell zur grauen Eminenz hoch. Er schafft es, Zigaretten per Container in die EU zu transportieren. Dazu werden sie mit anderen Waren abgedeckt: mit Gitternetzrollen, Kanaldeckeln, Walnusskernen oder Sonnenblumenöl. Und er hat mehrere Tarnfirmen gegründet. Sie heißen Nord Est Import mit Sitz im französischen Sarreguemines, Handelswueren in Luxemburg, Tarandus SL im mallorquinischen Calador oder First Consulting in Berlin.

Doch was Paulus schon nicht im Griff hatte, stellt auch Saulus schließlich ein Bein: Müller überschätzt sich erneut. Ende 2002 taucht seine Name in Abhörprotokollen des Zollfahndungsamts Frankfurt auf. „Der hat geglaubt, dass ihm keiner auf die Schliche kommt“, erzählt Oberstaatsanwalt Weyand. „Also hat er frei von der Leber weg geplaudert.“ Der Anfang vom Ende: Zwar gelingt es Müller noch einmal, der spanischen Justiz zu entkommen. In Eindhoven aber reißt seine Glückssträhne.

Frieder Dünkel, Kriminologe der Universität Greifswald, beschäftigt sich seit langem mit der Erforschung krimineller Lebensläufe. Er erklärt „Karrieren“ wie die von Müller mit kontrolltheoretischen Gesichtspunkten: „Abweichendes Verhalten“, sagt Dünkel, „tritt umso seltener auf, je stärker die Bindungen an private Kontrollsysteme sind.“ Die können laut Dünkel vieles sein: Arbeitsplatz, Familie oder Freundschaften. Als Müller in den Zigarettenschmuggel einstieg, gab es diese Strukturen nicht mehr. Er war geschieden, ohne legale Beschäftigung und in argen Finanznöten.

Müller, der Prototyp des Seitenwechslers? Weder Dünkel noch Pfeiffer können das mit Bestimmtheit sagen. Echte Seitenwechsel gibt es bisher zu wenige, als dass dieses Phänomen zum Forschungsobjekt taugt. Und dass Müller der Wissenschaft auf die Sprünge hilft, ist nicht zu erwarten. Nach Aussage von Staatsanwalt Weyand muss er mit bis zu vier Jahren Freiheitsstrafe rechnen, wobei er die U-Haft angerechnet bekommt. Und danach?

Müller liebt offenbar nach wie vor den Wandel. Und einen hat er wohl noch vor. Im „Hotel Gitterblick“ lernt er gerade Arabisch.

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